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Kriegsfolgen: Gefechte seit 100 Tagen: Gesichter des Krieges in der Ukraine

Sie alle verloren ihr Leben bei russischen Angriffen. Die Blumenwand in Lwiw erinnert an sie.
Kriegsfolgen

Gefechte seit 100 Tagen: Gesichter des Krieges in der Ukraine

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    Lwiw ist eine Kaffee-Stadt. Der Duft der frisch gerösteten Bohnen zieht durch den Raum, in einer Glasvitrine steht eine mächtige sahnige Torte. Jetzt einfach die Augen schließen, zurücklehnen, durchatmen und ein wenig Kaffeehaus-Atmosphäre genießen. Doch das verbietet sich, wenn man in ein müdes Augenpaar sieht. Olga steht der Krieg ins Gesicht geschrieben. Es tut weh, das zu sehen. Wir kennen uns beide seit 2007. Sie war oft meine Dolmetscherin, bei den Interviews konnte ich immer auf ihr einfühlsames Übersetzen bauen. In den vielen Jahren ist sie mir eine geschätzte Freundin geworden.

    Es gäbe viel zu erzählen an diesem Abend Ende März. Doch wir müssen uns beeilen. Wegen der Sperrstunde schließt das Café bald. Das Gespräch findet keine Ruhe. Olga erzählt, wie der Krieg in ihrer Familie über Nacht einschlug. Von ihrer 18-jährigen Tochter, die Molotow-Cocktails füllt, von Raketenangriffen und der Angst, dass die russischen Truppen es bis in den Westen der Ukraine schaffen. Davor, dass ihr Mann an der Front kämpfen muss. Dann fragt sie mich: „Meinst du, ich soll mit den Kindern fliehen?“ Das ist eine schlimme Frage, ich kann ihr keinen Rat geben.

    Zerstörung in Vororten von Kiew: Kaum eine Stadt, auf die keine Bomben fielen.
    Zerstörung in Vororten von Kiew: Kaum eine Stadt, auf die keine Bomben fielen. Foto: Till Mayer

    Nach dem ESC fielen wieder Bomben in der Ukraine

    Viele Wochen später, als die ukrainische Band Kalush Orchestra beim Eurovision Song Contest gewinnt, schreibe ich sie auf WhatsApp an und gratuliere. Die Antwort schmerzt: „Nach dem Eurovision-Sieg haben die Biester eine Stunde nach Bekanntgabe der Ergebnisse wieder bombardiert. Die nächste Nacht wieder … Mein Sohn hat jetzt endgültig ein Problem. Er rennt bei Luftalarm in den Keller. Da zittert er, Hände kalt, Wangen und Lippen rot und brennen. Übelkeit. Und so dauert es stundenlang, bis die Entwarnung kommt.“

    Olga bleibt in Lwiw. Dafür gibt es viele Gründe. Ihr Mann dürfte das Land nicht verlassen, wie alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren. Ihre Tochter will eher kämpfen als fliehen. Olga unterrichtet an der Universität. Die Kurse finden online statt, so wie auch der Schulunterricht. Sie fühlt sich auch ihren Studentinnen und Studenten verpflichtet. „Es muss weitergehen. Und die Ukraine ist meine Heimat“, sagt Olga. So versucht die Familie, mit dem Krieg zu leben. Über die Fenster haben sie Klebeband gezogen, das das Glas stabilisieren soll. Im Keller liegen Matratzen und Decken. Es gibt kaum eine Stadt im Land, die 100 Tage nach Beginn des Krieges noch nicht von Raketen getroffen wurde – auch wenn die Kampfgebiete im Osten und Süden der Ukraine hunderte von Kilometern entfernt liegen. Tod und Zerstörung aus der Luft sind als Alltagsterror längst Teil der russischen Kriegsführung.

    Wer jetzt, am Tag 100 der Invasion, durch das historische Stadtzentrum von Lwiw geht, spürt wenig vom Krieg. Die Restaurants haben offen. Nahe meinem Stammhotel gibt es Huhn mit süß-saurer Soße. Der zweite Blick verrät mehr. Dann fallen die Statuen auf, die eingehaust sind. Die wuchtigen Platten und Sandsäcke vor Kirchenfenstern. All das soll Kulturgut vor Explosionen und Druckwellen schützen. Keine übertriebene Vorsichtsmaßnahme, wenn man weiß, dass Russland Schulen, Universitäten und selbst Krankenhäuser beschießt. Auf den Plätzen patrouillieren Soldaten, auffallend viele Menschen schlendern über das Kopfsteinpflaster. Es sind keine Touristen wie vor der Invasion. Lwiw ist ein Fluchtzentrum für Binnenvertriebene geworden.

    In den Supermärkten von Lwiw erhält man nahezu alles, was für das tägliche Leben benötigt wird. Doch die Preise steigen seit der Invasion. Und die Einnahmequellen der Ukrainerinnen und Ukrainer versiegen. Weil Unternehmen ihre Arbeit einstellen mussten und keine Löhne mehr zahlen. Auch der Ehemann von Olga, ein Versicherungsmakler, ist davon betroffen. Sein Geschäft läuft schleppend.

    Eine Blumenwand zeigt in Lwiw die Bilder der Toten

    Doch Olga würde nie klagen, dass der Krieg auch eine finanzielle Herausforderung bedeutet. Der Grund ist an einer mächtigen Wand sichtbar, die im Stadtzentrum steht. Aus der Ferne sieht sie aus wie ein aufgerichteter Blumenteppich. Wer näher herangeht, sieht zwischen den Kunststoffblüten viele Fotos. Gesichter von Menschen aus der Stadt, die in den vergangenen 100 Tagen ums Leben gekommen sind. Junge Frauen lächeln auf den Fotos. Männer in Uniform. Und Kinder. Olga schmerzt diese Wand, sie ist wie eine offene Wunde für die ganze Stadt. Und die Fotos werden immer mehr.

    „Ich bin nicht zur Heldin geboren“, hat Olga einmal gesagt. Sie merkt gar nicht, wie tapfer sie ist. Auch an diesem Samstag, Tag 101 des Krieges, wird es aller Voraussicht nach wieder mindestens einen Alarm geben. Untertags reagieren in Lwiw die meisten Menschen gar nicht mehr auf die Sirenen und das Vibrieren ihrer Warn-App auf dem Smartphone. Doch Olgas neunjähriger Sohn wird wie viele andere Kinder beim Alarm die Hölle durchleben. Seine Mutter wird ihn in den Arm nehmen. Trost spenden, obwohl sie selber Trost bräuchte. Eine Familie in einem Land, in dem das Leben aller, wirklich aller, vor mehr als drei Monaten grausam erschüttert wurde.

    Aus Charkiw sind viele Menschen nach Lwiw geflohen. Schon in den letzten Apriltagen hatten drei Viertel der 1,5 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner aus der Stadt an der russischen Grenze die Flucht ergriffen. Um bleiben zu können, sind viele in den Untergrund gegangen – buchstäblich. In einer Metro-Station treffe ich damals Zinaida, 67, und ihren einjährigen Enkel Dimitri. Die Eltern sind gerade an der Oberfläche. Dort hört man regelmäßig das Grollen der Artillerie. Es gibt keinen Tag, an dem nicht irgendwo die Rauchfahne eines Raketeneinschlags in den Himmel steigt. Im künstlichen Licht der U-Bahn liegen die Menschen auf Matratzen. Manche haben Iglu-Zelte aufgestellt, andere Paletten herabgetragen, um sie unter die Matratzen zu schieben. Zinaida sagt: „Es gibt hier unten irgendwie keine Zeit mehr. Immer dasselbe Licht. Es ist furchtbar. Wir Erwachsenen gehen oft untertags an die frische Luft. Manche suchen ihre nahe Wohnung auf, um eine Dusche zu nehmen. Aber unseren kleinen Dimitri, den wollen wir nicht in Gefahr bringen“, sagt die Großmutter.

    Zinaida, 67, lebte mit ihrem einjährigen Enkel Dimitri fast drei Monate lang in einer Metrostation.
    Zinaida, 67, lebte mit ihrem einjährigen Enkel Dimitri fast drei Monate lang in einer Metrostation. Foto: Till Mayer

    Im Mai schließlich gelingt es der ukrainischen Armee, russische Verbände zurückzudrängen – und damit auch ihre Artilleriestellungen. Charkiw ist sicherer geworden, mehr und mehr Menschen kehren zurück. Bis zu 2000 täglich, teilt die Stadtverwaltung noch im Mai mit. In einer anderen Metro-Station hatte ich eine Helferin kennengelernt, die die Menschen dort versorgte. Sie hat mir vor wenigen Tagen auf WhatsApp ein Filmchen geschickt: Die erste Metro, die nach der Invasion wieder einfährt. Der Zugführer lässt die Hupe ertönen, als der blaue Zug über das Gleis schnauft. Ich höre die aufgeregten Rufe der Helferin. Fast drei Monate war die Station für sie und Hunderte das Zuhause. Was muss das für ein Gefühl gewesen sein. Es ist ein schönes Geschenk, dass sie diesen Moment mit mir teilt.

    „Aber einige kommen nachts immer noch, um in der Station zu schlafen“, fügt sie ihrer Nachricht hinzu. Denn noch immer schlagen Raketen in der Stadt ein. Das hält die Menschen nicht davon ab, zurückzukehren. Nicht wenige von ihnen werden Ruinen und beschädigte Wohnungen vorfinden. Besonders in Vierteln wie Saltiwka hat die russische Bombardierung immensen Schaden hinterlassen. Zersplittertes Glas, ausgebrannte Fensterhöhlen, Fassaden, in die sich Splitter gefressen haben, ganze Hausecken fehlen nach Granateneinschlägen.

    Die Menschen in der Ukraine bieten dem Krieg die Stirn

    In den von der russischen Armee besetzten Dörfern sind Landminen und Sprengsätze eine Gefahr. Wie überall, wo die Besatzer gewütet haben. Viele Menschen in der Ukraine sind auf humanitäre Hilfe und Essensausgaben angewiesen. Der kleine Dimitri wächst in einer verstörenden und geschundenen Welt auf. Aber mit Menschen, die dem Krieg die Stirn bieten.

    Eine tapfer, kreativ und auch stoisch kämpfende ukrainische Armee hat weltweit Respekt gefunden. Respekt verdient auch die Zivilgesellschaft, das Heer von Freiwilligen, die sich ehrenamtlich als Helferinnen und Helfer engagieren. Sie bringen Lebensmittel in umkämpfte Viertel und riskieren dabei ihr eigenes Leben. Aus dem Stand organisieren sie die Versorgung von Hunderten in einer Metro-Station. Sie teilen beim Roten Kreuz Eintopfgerichte an Vertriebene aus, obwohl sie selber vor den Kämpfen fliehen mussten. So habe ich viele, sehr viele Ukrainerinnen und Ukrainer erlebt. Es hat mich nicht gewundert, denn diese Hilfsbereitschaft, die ich selbst bei vielen Projekten erfuhr, hat mich seit 2007 das Land und seine Menschen schätzen gelehrt.

    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, besuchte kürzlich die Region Charkiw.
    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, besuchte kürzlich die Region Charkiw. Foto: AP, dpa

    Als ich mich Anfang Mai auf den Rückweg mache, geht es über Kiew. Ich war dort im März das letzte Mal. Die Metropole war noch umkämpft. Über der Stadt hingen Rauchfahnen von Einschlägen, Abwehrraketen stiegen in den Himmel. Die Straßen fast menschenleer. Und jetzt? Das Leben kehrt zurück, Geschäfte öffnen wieder, ebenso mehr und mehr Cafés und Restaurants. Sogar die Oper, habe ich gehört. „Wir lernen hier die Kunst der War-Life-Balance“, sagt mir ein junger Mann in einem To-Go-Café und lacht trocken. Den Spagat zwischen Krieg und Alltag. Denn auch in

    Am Ende der Reise laden mich mein Kollege Oles und seine Freundin Vika zum Abschiedsessen ein. Rund zwei Wochen waren Oles und ich gemeinsam unterwegs. Jetzt stehen wir in einem großen Supermarkt und Oles sucht nach guten Steaks. „Die sind richtig. Schön marmoriert“, sagt er. Und sie kosten ein kleines Vermögen. Als ich zum Portemonnaie greife, runzelt Oles die Stirn und schiebt ärgerlich meine Hand weg.

    Kürzlich noch verlieh er seine schusssichere Weste

    Jetzt bin ich wieder in Deutschland, doch in wenigen Tagen geht es zurück in die Ukraine. Die Vorbereitungen laufen. „Wir werden Probleme haben, Kraftstoff aufzutreiben. Die Situation hat sich verschlechtert“, informiert mich Oles am Telefon. Es war schon bei unserer jüngsten Reise nicht immer leicht, eine Tankstelle zu finden, die uns das nötige Kontingent an Diesel gab. Denn Diesel ist Mangelware. Er wird für die Panzer und Lastwagen der Armee benötigt. Raketen haben zudem eine Raffinerie zerstört. Im Donbass, sagt Oles, seien in den vergangenen Tagen gleich mehrere Männer gefallen, die er kennt. Dort ist das große Sterben und Töten.

    Den Ukrainern fehlen Artillerie und gepanzerte Fahrzeuge. Material, dass sie sich auch von Deutschland erhofft hatten. Das Zaudern der internationalen Partner kostet nun ukrainische Soldatenleben. „Einen der Männer kennst du. Er hat dir einmal seine schusssichere Weste geliehen, als du deine bei einer Reise nicht mitnehmen konntest“, sagt mir Oles am Ende unseres Telefonats.

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