Von Rauch verkohlte Häuserskelette, zertrümmerte und ausgebrannte Autos und geplünderte Geschäfte – die umkämpfte Hafenstadt Mariupol ist zum Symbol des Krieges gegen die Ukraine geworden. Die Lage: verheerend. Die Menschen: verzweifelt. Im Nachrichtendienst Telegram teilen einige von ihnen Bilder aus dem Ort, der einst ihre Heimat war – um wenigstens ein Lebenszeichen zu senden.
„Mein Haus brennt, alle zwölf Etagen“, sagt ein Mann, während er das in Flammen stehende Gebäude am Prospekt Mira – der „Straße des Friedens“ – filmt. „Kein Leben mehr.“ Dann ist nur noch ein tränenersticktes Schluchzen zu hören. Andere klagen über Hunger. Ein Mann sagt, er habe seit Tagen nicht einmal ein Stück Brot gehabt. Andere bereiten auf der Straße am offenen Feuer warmes Wasser, Suppen und Brei zu. Auf manchen der Videos sind auf den Wegen Leichen zu sehen, bedeckt mit weißen Tüchern.
Und doch sagt Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk: „Es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben.“ Russland hatte am Sonntag die ukrainischen Truppen in Mariupol aufgefordert, die Waffen niederzulegen und die Stadt am Montagvormittag zu verlassen. Das russische Militär schickte ein acht Seiten langes Schreiben und forderte eine schriftliche Antwort. „Anstatt Ihre Zeit auf acht Seiten Brief zu verschwenden, öffnen Sie einfach einen Korridor“, entgegnet Wereschtschuk.
US-Experten sehen russisches Scheitern beim Krieg gegen die Ukraine
Die Hoffnung, dass dieser Krieg ein baldiges Ende nimmt, sie schwindet jeden Tag. Zwar haben sich auch an diesem Montag wieder Unterhändler der Ukraine und Russlands für eine neue Verhandlungsrunde per Videoschalte zusammengesetzt., doch wo vor Tagen bei Beobachtern zumindest noch vorsichtiger Optimismus herrschte, hat sich inzwischen Ernüchterung breitgemacht. Die Kämpfe steuern auf eine Patt-Situation zu. Weder die russische noch die ukrainische Seite hätten genug Kraft, um die Situation in die eine oder andere Richtung zu drehen, sagt Olexij Arestowitsch, Berater der ukrainischen Regierung.
Auch der US-Thinktank „Institute for the Study of War“ stützt diese Sicht. Russland wollte Großstädte wie Kiew, Odessa und Charkiw durch gezielte Operationen einnehmen „Die russischen Streitkräfte machen in einigen Teilen des Gebiets weiterhin begrenzte Vorstöße, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie ihre Ziele auf diese Weise erreichen können“, so die Analyse. Möglich wäre es, dass die russische Armee eine Feuerpause einlegt und einen neuen Plan entwickelt. Das sei aktuell jedoch nicht zu erkennen, stattdessen werde die laufende Kampagne mit „kleinen Verstärkungspaketen“ am Leben gehalten. „Wir gehen davon aus, dass dieser Versuch scheitern wird“, so das „Institute for the Study of War“. Der Kreml bereite sich auf einen langen Krieg in der Ukraine vor.
Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel geht davon aus, dass auf russischer Seite bislang zwischen 175.000 und 190.000 Soldaten an dem Angriff auf die Ukraine beteiligt waren, unterstützt würden sie durch irreguläre Verbände aus den beiden sogenannten „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk in der Größenordnung von 30.000 Mann. Die regulären ukrainischen Verbände umfassten zu Kriegsbeginn etwa 200.000 Soldaten, hinzu kommt eine große Reserve an Volksmilizionären.
„Die Ausrüstung der russischen Verbände war und ist deutlich besser als diejenige der Ukrainer“, analysiert Krause. Allerdings habe die Ukraine in den vergangenen Jahren vor allem mit Unterstützung der USA und auch Großbritanniens einen deutlichen Modernisierungsschub gemacht, das Land habe Defensivwaffen erhalten. Auch das Heer sei umstrukturiert worden, starre Kommandostrukturen aus der Sowjetzeit abgelegt worden, um Befehlshabern auf unteren Ebenen mehr Spielraum zu lassen. „Außerdem verfügen die ukrainischen Truppen offenbar über interne Kommunikationsstrukturen, die deutlich moderner und effektiver sind als die der Russen“, sagt Sicherheitsexperte Krause.
Der Durchhaltewille der Ukrainer ist enorm
Trotzdem ist er vorsichtig bei der Einschätzung der Lage. Die Informationslage ist schwierig, da sowohl die russische als auch die ukrainische Seite die eigenen Erfolge und die Schläge gegen den Gegner oftmals überzeichnet. Zu erkennen sei aber klar, dass vor allem die Eroberung der Hauptstadt Kiew deutlich langsamer voranschreitet als vom Kreml geplant. Viele Versuche, weiter vorzudringen und die Stadt einzukesseln seien gescheitert. „Die Kampfkraft und der Durchhaltewille der Ukrainer ist enorm und wird durch die täglichen Aufrufe von Präsident Selenskyj, seiner Frau und auch des Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko immer weiter gestärkt, vor allem da die russischen Truppen Schwächen zeigen, aber immer brutaler gegen die Zivilbevölkerung vorgehen und die Wut und die Entschlossenheit der Ukrainer steigern“, so Krause. Deutlich größer seien die russischen Erfolge an der südöstlichen Front (rund um Mariupol) und an der südlichen Front (rund um Cherson).
Neue Dynamik könnte in diesen Krieg kommen, wenn auch Belarus aktiv in die Kampfhandlungen eingreift. „Es gibt Anzeichen, dass der russische Druck auf den belarussischen Führer Lukaschenko steigt, Truppen in die Ukraine zu entsenden“, analysiert Joachim Krause. „Allerdings mehren sich Berichte über Widerstand dagegen im belarussischen Militär, auf dessen Unterstützung Lukaschenko zum eigenen Machterhalt dringend angewiesen ist.“
Die Entsendung von Truppen in die Ukraine sei daher für Alexander Lukaschenko nicht ohne innenpolitische Risiken. Deshalb sei dem Kreml wohl bewusst, wie fragil die Lage für Russland ist. Darauf würde auch der Einsatz teurer Waffensysteme hindeuten: Beim Angriff auf den Militärstützpunkt Jaworiw bei Lwiw wurden Marschflugkörper genutzt. „Niemand weiß, wie viele dieser luftgestützten Marschflugkörper Russland besitzt, aber es ist ein Indikator, wie nervös Russland in dieser Frage ist und dass die Bereitschaft zunimmt, höherwertige Abstandswaffen einzusetzen“, glaubt der Kieler Sicherheitsexperte.
Was das für die Ukraine heißt, das bleibt indes ungewiss. Wird sich die russische Armee eine neue Taktik einfallen lassen, oder zermürben die eigenen Verluste die Truppe so sehr, dass Friedensgespräche erfolgversprechender werden? Zumindest aktuell bleibt Putin hart. Russland sieht nach wie vor keine Voraussetzungen für ein Treffen der Präsidenten der beiden Länder. „Sie haben einfach nichts zum Festklopfen, keine Vereinbarungen, die sie festhalten könnten“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. (mit dpa)