Die Rauchwolke verfärbt den Himmel in ein dunkles Grau. Mehrere Explosionen lassen erahnen, wie heftig dieser Schlag gewesen sein muss. Die Luftbilder, die das israelische Militär über seinen Twitter-Kanal verbreitet, zeigen den Militäreinsatz im Gazastreifen. Feuersäulen steigen empor. Täglich meldet das Militär Erfolge. Meist sind es Schläge aus der Luft, nun soll auch die Bodenoffensive ausgeweitet werden. Das teilte Militärsprecher Daniel Hagari am Freitagabend auf der Plattform X mit. In den letzten Stunden habe das Militär seine Angriffe im Gazastreifen bereits verstärkt. „Die Luftwaffe greift in erheblichem Umfang unterirdische Ziele und terroristische Infrastrukturen an“, schrieb Hagari. Es blieb zunächst unklar, ob die Ankündigung den Beginn der weithin erwarteten Bodenoffensive darstellte. Nichts weniger als die Auslöschung der Hamas hat Premierminister Benjamin Netanjahu als Losung ausgegeben. Und doch zögerte er.
Warum? „Ich glaube, es gibt drei Gründe“, sagt Peter Neumann. Der Terrorismusforscher vom King’s College in London lenkt den Blick vor allem auf die israelischen Geiseln, die sich in der Hand der Hamas befinden – sie sind das mit großem Abstand gewichtigste Faustpfand der Extremisten. 229 Frauen, Männer und Kinder sind es, die verschleppt wurden. Das Emirat Katar, das als wichtigster Partner der Hamas gilt, zugleich aber auch politische Beziehungen zum Westen pflegt, ist als Verhandler herangezogen worden. Vier Frauen hat die Terrororganisation in den vergangenen Tagen in die Freiheit entlassen. Es war ein kleiner, aber immerhin erster Erfolg der Krisendiplomatie.
Hamas verschanzt sich unter einer Klinik
Zweitens, so der Experte, kam die Massenevakuierung vom Norden in den Süden des Gazastreifens nur langsam voran. Für Israel aber sind zivile Opfer immer ein Dilemma: Zum einen sind sie im dicht besiedelten Gazastreifen nur schwer zu vermeiden – zum anderen baut die Hamas genau auf die Wucht moralischer Erschütterungen, die Israel treffen, sobald die Bilder toter oder verletzter Kinder um die Welt gehen. Erkenntnissen israelischer Geheimdienste zufolge missbraucht die Hamas zum Beispiel die größte Klinik in dem Küstengebiet als Kommando- und Kontrollzentrum. Auch andere Kliniken würden für die Zwecke der Islamisten missbraucht. Schon jetzt sollen im Gazastreifen mehr als 7000 Menschen getötet worden sein. Im Fall einer Bodenoffensive dürften die Zahlen nochmal deutlich nach oben gehen. Das führt Neumann zu seinem dritten Punkt: die USA. Präsident Joe Biden habe wohl dafür gesorgt, „dass Israel seine Pläne mehrfach geändert hat, mit mehr Rücksicht auf zivile Opfer und einen konkreteren Plan für den ‘Tag danach’“.
Washington ist die politische Schutzmacht Israels – aber auch wichtiger Geldgeber. Milliardensummen werden im amerikanischen Haushalt für das israelische Militär bereitgestellt. Und doch ist es gerade Biden, der den Blick immer wieder auf die Lage der Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens lenkt. Israel solle nicht die Fehler machen, die die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September gemacht hätten: „Ich warne: Während Sie die Wut fühlen, lassen Sie sich nicht von ihr verzehren.“ Ganz selbstlos ist dieser Rat nicht. „Die Amerikaner sind ein enger Alliierter Israels, aber sie sehen auch ihre eigenen nationalen Interessen“, sagt Stephan Stetter, Konfliktforscher und Nahost-Experte der Universität der Bundeswehr in München. Ein Flächenbrand in der Region soll mit aller Macht verhindert werden.
Präsident Macron drängt Israel zu Zurückhaltung
Der US-Präsident drängt deshalb genau wie sein französischer Amtskollege Emmanuel Macron besonders stark auf Pläne, die über den aktuellen Militäreinsatz und vor allem über eine schnelle Offensive hinausgehen. „Konsens ist: Es muss eine politische Perspektive für die Palästinenser geben nach diesem Krieg“, sagt Stetter. In dieser Perspektive dürfe die Hamas keine politische Rolle im Gazastreifen mehr spielen. Ein Ziel, dessen Umsetzung Zeit kostet. „Ich würde eher von einem längeren Kriegsverlauf ausgehen, Israel wird es schrittweise angehen“, sagt Stetter. Auch, um die Kriegsziele der Hamas nicht in Erfüllung gehen zu lassen. „Sie will den Friedensprozess für immer verhindern, sie will Hass säen, der nicht mehr verschwindet“, so die Einschätzung des Experten.
Unterstützung könnte Israel sogar von arabischer Seite erhalten. Die USA drängen Katar, die Hamas aus dem Emirat zu verbannen – dort, in der Hauptstadt Doha, hat die Organisation seit Jahren ihren Sitz. Auch Saudi-Arabien und Ägypten könnten mit ins Boot geholt werden, wenngleich das mit Rücksicht auf die aufgeheizte öffentliche Stimmung in den arabischen Gesellschaften eher hinter den Kulissen geschehen dürfte. Eine ausgeweitete Bodenoffensive könnte den Rückhalt für Israel daher eher schwächen.
Palästinenser brauchen eine politische Perspektive
Ein entscheidender Faktor in der Rechnung sind zudem die im Gazastreifen lebenden Palästinenser selbst. Die humanitäre Lage ist angespannt. Vor Ausbruch des Krieges deuteten Meinungsumfragen auf einen hohen Rückhalt für die Hamas hin. „Hätte es Wahlen gegeben, hätte ein Hamas-Kandidat sehr gute Chancen gehabt“, sagt Konfliktforscher Stetter. Allerdings deute vieles darauf hin, dass es einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Bevölkerung gebe, der die Hamas aus Protest unterstützt. „Die meisten Leute wären sicher froh, wenn es eine andere politische und damit auch andere wirtschaftliche Perspektive für sie gäbe“, sagt er.
Der radikale Geist könne kurzfristig nicht ganz vertrieben werden – aber womöglich zumindest in Schach gehalten. Wer das politische Vakuum, das die Hamas im Gazastreifen hinterlassen würde, füllen kann, ist aktuell offen. Ein Akteur könnte die Palästinensische Autonomiebehörde sein. Die ist zwar selbst unter Palästinensern umstritten, könnte durch ihre internationale Anerkennung aber sicherstellen, dass auch die Menschen aus Gaza in eine Nachkriegsordnung eingebunden werden.