Welche Ziele verfolgt Israel mit der bevorstehenden Bodenoffensive?
In seiner ersten Reaktion auf den Terrorangriff gab Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Ziel aus, die „militärischen Kapazitäten“ der Hamas zu zerstören. Darunter versteht Israel nicht nur eindeutig militärische Ziele wie Waffenlager und -produktionsstätten, Kommando- und Kontrollzentren sowie Raketenabschussrampen, sondern auch Einrichtungen wie Banken, die die Gruppe der IDF zufolge zur Terrorfinanzierung nutzt.
Was in den vergangenen Tagen allerdings nicht feststand ist, welches längerfristige Ziel Israel in Gaza verfolgt: Würde eine entmilitarisierte Hamas weiter regieren dürfen? Seit Kurzem legt sich die Armee etwas näher fest: „Wir können nicht weiterleben mit der Führung der Hamas“ in Gaza, sagte der Sprecher der israelischen Armee, der IDF, am Freitagmorgen.
Wer Gaza stattdessen kontrollieren soll, ist unklar. Der pensionierte Generalmajor Tamir Hayman, Geschäftsführer des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, schlägt in einer Analyse vor, der Palästinensischen Autonomiebehörde die Kontrolle über Gaza zu übertragen. Israels Regierung selbst lässt die Frage bislang offen, und manche Analysten vermuten, dass sie selbst noch keine klare Antwort hat.
Wie will Israel militärisch vorgehen?
Yaakov Amidror, pensionierter Generalmajor und früherer Berater der Regierung für nationale Sicherheit, spricht von vier Phasen. Zuerst müsse Israel sämtliche Terroristen töten, die sich noch auf seinem eigenen Territorium bewegten. Das ist Israel inzwischen weitgehend gelungen, auch wenn die Armee nicht ausschließen kann, dass sich noch immer einzelne Hamas-Männer im Süden des Landes verstecken.
Die zweite Phase besteht Amidror zufolge aus Luftschlägen, wie die IDF sie seit einer Woche Tag und Nacht ausführt. „Wir müssen alle Ziele auf unserer Liste zerstören, Orte identifizieren, wo die Hamas mögliche Operationen gegen uns plant, so viele von ihnen wie möglich töten und sie daran hindern, Raketen abzuschießen“, erklärt Amidror, der heute am Jerusalem-Institut für strategische Studien (JISS) forscht, einer konservativen Denkfabrik.
In der dritten Phase sollte Israel sämtliche militärische Infrastruktur zerstören. „Dafür müssen Truppen in Gaza eindringen, das geht nicht allein mit Luftwaffe oder Artillerie.“
Am Freitagnachmittag schien es, dass diese Phase kurz bevorstehen könnte: Am Morgen hatte Israel die Bevölkerung im nördlichen Gazastreifen angewiesen, zu ihrer eigenen Sicherheit ihre Häuser zu verlassen.
Zu erwarten ist ein schwieriger Einsatz, der sich Experten zufolge über Monate hinziehen kann. Denn die Hamas hat viele ihrer Einrichtungen inmitten ziviler Infrastruktur in den Städten sowie in ihren Tunneln verborgen. Die Soldaten werden sich Straßenzug um Straßenzug vorarbeiten und auf einen verlustreichen Häuserkampf einlassen müssen.
Was bedeutet das Vorgehen Israels für die Geiseln?
Ein Hamas-Vertreter hat gedroht, für jeden unangekündigten Luftangriff eine Geisel zu töten. Die Glaubwürdigkeit dieser Drohung scheint zweifelhaft, denn solange die Hamas die Hoffnung hat, mittels der Geiseln womöglich eigene Gefangene aus israelischen Gefängnissen freizupressen, sind sie für die Terroristen lebend wertvoller als tot. Sollte die Organisation in Gaza jedoch stark in Bedrängnis kommen, könnte ihr Kalkül sich ändern: Womöglich könnte sie in der gefilmten Exekution von Geiseln ein probates Mittel der psychologischen Kriegsführung sowie die Chance auf einen Propagandaerfolg sehen. Unabhängig davon sind die Geiseln, sofern die Armee ihren Aufenthaltsort nicht kennt, auch von den israelischen Luftangriffen gefährdet.
In der Frage der Geiseln habe Israel „sehr begrenzte Optionen“, glaubt der pensionierte Generalmajor Eitan Dangot vom JISS. Er hofft, dass Länder wie Katar, einem der größten Geldgeber der Hamas, auf die Terroristen Druck ausüben könnten, zumindest Frauen, Alte und Kinder zu befreien. „Aber wir brauchen Geduld.“
Nach Angaben des militärischen Arms der Hamas im Gazastreifen sollen 13 der rund 150 aus Israel verschleppten Geiseln bei israelischen Luftangriffen getötet worden sein. Darunter sollen auch ausländische Staatsangehörige sein, behaupteten die Al-Kassam-Brigaden in einer Stellungnahme am Freitag. Unabhängig konnten diese Angaben nicht überprüft werden.
Was droht den palästinensischen Zivilisten in Gaza?
Schon jetzt ist die humanitäre Lage im Gazastreifen prekär, verschärft durch die komplette Blockade, die Israel vor einigen Tagen verhängt hat. Auch Ägypten hat seinen Grenzübergang mit Verweis auf Gefahr durch israelische Luftschläge geschlossen. Die Weltgesundheitsorganisation warnt, das Gesundheitssystem in dem eng besiedelten Landstrich stehe „kurz vor dem Zusammenbruch“; die Zahl der Zivilisten, die bei israelischen Luftschlägen sterben, steigt stetig. Eine monatelange Bodenoffensive, begleitet von weiteren Schlägen aus der Luft, triebe die Opferzahl zweifellos weiter in die Höhe – auch, weil die Hamas viele ihrer Einrichtungen in ziviler Umgebung versteckt. Die IDF betont zwar immer wieder, Zivilisten in Gaza vor Angriffen zu warnen. Doch viele Menschen haben keinen Ort, an den sie fliehen könnten.
Können sich die Menschen in Gaza überhaupt in Sicherheit bringen?
Eine Massenevakuierung binnen 24 Stunden wäre auch nicht realistisch, weil sich 50.000 Menschen pro Stunde über enge Straßen auf den Weg Richtung Wadi Gaza machen müssten. Zudem berichteten Augenzeugen im Gazastreifen, Bewohner seien bereits von der Hamas gestoppt und zur Rückkehr in den Norden aufgefordert worden. Generell herrsche große Panik in dem Gebiet, es gebe keine klaren Anweisungen. Vom Zentrum Gaza-Stadt bis zum Wadi Gaza sind es etwa zehn Kilometer Luftlinie. Die US-Regierung bemüht sich weiter um die Öffnung eines Grenzübergangs für Zivilisten zur Ausreise aus dem Gazastreifen.