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Krieg in Nahost: Nur raus aus Rafah: Ahmads Flucht vor dem Krieg

Krieg in Nahost

Nur raus aus Rafah: Ahmads Flucht vor dem Krieg

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    Rauch über Rafah am 31. Mai. Israel vermutet dort noch Hamas-Terroristen.
    Rauch über Rafah am 31. Mai. Israel vermutet dort noch Hamas-Terroristen. Foto: Abdel Kareem Hana/AP, dpa

    Am 22. Oktober 2023 in Gaza City, schon inmitten des Krieges, beging Ahmad Khalil (Name geändert) seinen 35. Geburtstag. "Gegen zehn Uhr kam meine Frau in das Zimmer, in dem ich saß, gratulierte mir und übergab mir unseren kleinen Sohn", erzählt Khalil. Minuten später wurde seine Wohnung von einer Explosion erschüttert: Die israelische Armee hatte ein Nachbargebäude bombardiert. "Plötzlich war überall Zerstörung und Rauch, mein Sohn und ich waren bedeckt mit Blut und ich konnte mich nicht bewegen. Meine Frau schrie, als sie uns sah." Fotos, die Khalil via Facebook schickt, zeigen seinen anderthalbjährigen Sohn mit einer Platzwunde an der Stirn und blutüberströmtem Gesicht.

    Danach trafen er und seine Frau Hala eine Entscheidung: Hala und die zwei Kinder würden nach Ägypten reisen, vorübergehend. Das Paar konnte damals nicht ahnen, wie lange sich der Krieg hinziehen würde, den die palästinensische Terrororganisation Hamas mit ihrem bestialischen Angriff am 7. Oktober 2023 auslöste. Mit der Ermordung von rund 1200 Menschen in Israel. Den Vergewaltigungen. Den Geiselnahmen. Im Februar entschied sich dann auch Ahmad Khalil, seiner Familie zu folgen. Doch das war bereits deutlich schwerer und die privaten Reserven der Familie fast aufgebraucht. Was tun?

    "Mein Name ist Ahmad Khalil, und noch vor ein paar Monaten hatte ich ein glückliches und stabiles Leben"

    In seiner Verzweiflung startete Khalil eine Crowdfunding-Kampagne auf GoFundMe. Das Prinzip ist einfach: Man beschreibt auf dem Portal, wozu man Geld benötigt – und hofft auf möglichst viele Spenderinnen und Spender. Oft werden Kleinstbeträge gegeben, aber die können sich summieren. "Mein Name ist Ahmad Khalil, und noch vor ein paar Monaten hatte ich ein glückliches und stabiles Leben mit meiner Familie in unserem schönen Haus", schrieb er also auf der Kampagnenseite. "Dann kam der Krieg."

    Immer mehr Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza nutzen Crowdfunding. Viele, um auszureisen, andere, um innerhalb Gazas angesichts dramatisch steigender Lebensmittelpreise überleben zu können. Allein auf GoFundMe laufen Berichten zufolge mehr als 12.000 solcher Kampagnen. In der Regel sind es Freunde und Verwandte im Ausland, die eine Kampagne registrieren und ihre Kontodaten angeben, weil sich nach Gaza nur schwer Geld überweisen lässt. Die erfolgreichsten dieser Aufrufe bringen über hunderttausend US-Dollar ein.

    Der Grenzübergang Rafah auf einem Foto von Mitte Oktober 2023. Seit Mai ist er geschlossen.
    Der Grenzübergang Rafah auf einem Foto von Mitte Oktober 2023. Seit Mai ist er geschlossen. Foto: Mohammed Talatene, dpa

    Eine der größten Hürden für Palästinenser, die raus aus Gaza möchten, sind die Kosten. Vor dem Krieg mussten Palästinenser, die den Gazastreifen zum Beispiel über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten verlassen wollten, mehrere Hundert US-Dollar pro Person für eine Genehmigung zahlen. Seitdem vervielfachte sich der Preis für eine Ausreise. Bis der Grenzübergang von der israelischen Armee geschlossen wurde. Unter anderem die Hilfsorganisation International Rescue Committee kritisierte das scharf, damit sei auch "die Einreise von humanitären Helfenden und Hilfsgütern, einschließlich Treibstoff, blockiert". Dies erschwere "erheblich die Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza".

    Die israelische Armee vermutet in Rafah noch Hamas-Terroristen

    Am Mittwoch waren die israelischen Armee-Einsätze in der Stadt im südlichen Gazastreifen weitergegangen. Es seien, erklärte das Militär, Bewaffnete getötet worden, die eine Bedrohung für Soldaten dargestellt hätten. Ohne eine Offensive auf Rafah, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mehrfach, könne die Hamas nicht besiegt werden. In Rafah sollen sich noch Hamas-Terroristen und -Anführer aufhalten. Wegen des Vordringens der israelischen Armee sollen Hunderttausende aus der Stadt geflohen sein – nachdem Hunderttausende zuvor dort Zuflucht gesucht hatten. Und Ungezählte hofften, es nach Ägypten zu schaffen.

    Wie Ahmad Khalil. Wie viel er für den Grenzübertritt zahlte, will er nicht sagen. Recherchen verschiedener amerikanischer, britischer und ägyptischer Medien haben ergeben, dass die Ausreise über Rafah zuletzt 5000 US-Dollar für Erwachsene und 2500 US-Dollar für Kinder kostete. In manchen Berichten ist von bis zu 15.000 US-Dollar die Rede. Die wenigsten Menschen in Gaza können diese Summen aufbringen. Der durchschnittliche Monatslohn betrug nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation vor dem Krieg rund 180 Euro.

    Ahmad Khalil (Name geändert) auf einem undatierten Foto. Inzwischen ist er in Ägypten. "Ich hoffe, dass ich in Zukunft wieder ein normales Leben führen kann", schreibt er via Facebook.
    Ahmad Khalil (Name geändert) auf einem undatierten Foto. Inzwischen ist er in Ägypten. "Ich hoffe, dass ich in Zukunft wieder ein normales Leben führen kann", schreibt er via Facebook. Foto: Ahmad Khalil

    Das Geld verlangte eine ägyptische Firma namens Hala Consulting and Tourism, die das Monopol über die Organisation von Ausreisen aus Gaza hält. Das Unternehmen gehört zur Organi Group, dem Firmenkonsortium des ägyptischen Unternehmers Ibrahim al-Organi, der über enge Verbindungen zu den ägyptischen Sicherheitsdiensten verfügen soll. Bis vor Kurzem veröffentlichte Hala NPR aus, dass die Firma allein am 1. März 1,3 Millionen US-Dollar an Ausreisegebühren einnahm.

    Wer nach Ägypten wollte, musste viel Geld zahlen – auch Schmiergeld

    Palästinenser schilderten das Prozedere wie folgt: Ein Bekannter des Ausreisewilligen musste sich zum Sitz der Firma in Kairo begeben und die Gebühr bezahlen. Einen anderen Weg gab es nicht. "Bezahle und reise aus oder weigere dich zu zahlen und bleibe zurück" – so beschrieb ein Palästinenser in Australien, Mohammed Sulaiman, die Lage im Text seiner eigenen Crowdfunding-Kampagne. Er will 13 Verwandte aus Gaza herausholen.

    Trotz der hohen Preise war der Andrang immens. Zwischenzeitlich sollen die Wartezeiten für die Ausreise derart lang gewesen sein, dass manch einer zusätzlich zu den Ausreisekosten teils Tausende Dollar an Schmiergeld berappte, um einen der begehrten Plätze auf den Ausreiselisten zu erhalten. Der Chef des ägyptischen Informationsdienstes, einer staatlichen Behörde für Öffentlichkeitsarbeit, Dia Rashwan, sagte im Januar, die Berichte über Ausreisegebühren basierten auf "nicht glaubwürdigen und unverifizierten Quellen". Zu den Medien, die zu den Praktiken der Firma Hala Consulting and Tourism recherchierten, zählen indes große Namen wie der britische Economist, BBC, Sky News sowie mehrere arabische Medien. 

    Mit der Schließung des Grenzübergangs Rafah ist ein Übertritt fast unmöglich geworden. Berichte über eine Wiedereröffnung wies Ägypten kürzlich zurück. Ägyptens Regierung hat ihre eigenen Gründe, die Einreise von Palästinenserinnen und Palästinensern zu beschränken. Schon in den ersten Wochen des Krieges riefen manche Beobachter das Land dazu auf, einen Fluchtkorridor für Menschen aus dem Gazastreifen einzurichten. Kairo lehnte dies vehement ab: Nur wenn die Palästinenser in Gaza blieben, könnten sie für ihren Staat kämpfen, hieß es.

    Wegen des Vordringens der israelischen Armee sollen Hunderttausende aus Rafah geflohen sein – nachdem Hunderttausende zuvor dort Zuflucht gesucht hatten. Das Bild stammt von Ende April.
    Wegen des Vordringens der israelischen Armee sollen Hunderttausende aus Rafah geflohen sein – nachdem Hunderttausende zuvor dort Zuflucht gesucht hatten. Das Bild stammt von Ende April. Foto: Rizek Abdeljawad/XinHua, dpa

    Damit spielte Ägyptens Regierung auf das palästinensische Trauma der Nakba, zu Deutsch "Katastrophe", an: Während des israelischen Unabhängigkeitskrieges, den Israel 1948 gegen mehrere angreifende arabische Staaten führte, flohen über 700.000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihren Städten und Dörfern im heutigen Israel. Manche flüchteten sich vor den herannahenden Kämpfen, andere wurden von Israels Armee vertrieben – und allen verwehrte Israel später die Rückkehr. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, Mahmud Abbas, meinte daher zu Beginn des Gaza-Kriegs, käme es zu einer Vertreibung von Palästinensern aus Gaza, wäre dies eine "zweite Nakba".

    Ägypten fürchtet, dass mit palästinensischen Geflüchteten auch Radikale ins Land kommen

    Ägyptens Weigerung, die Grenze für Geflüchtete zu öffnen, erklärt sich vor allem damit: Bereits jetzt hat es das Land mit dschihadistischen Gruppen auf der Sinai-Halbinsel zu tun. Und mit zahlreichen palästinensischen Geflüchteten kämen wohl auch Radikale. Gäbe es einen massenhaften Exodus aus Gaza, warnte Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi im vergangenen Oktober, könnten Palästinenser die Sinai-Halbinsel zu einer "neuen Basis für Terroroperationen gegen Israel" machen.

    Derzeit allerdings kann im Grunde kein Palästinenser mehr Gaza verlassen. Seit Anfang Mai ist der Grenzübergang Rafah dicht, für Personen wie für Hilfsgüter. Das ist der Stand der Dinge: Ägypten weigert sich, an der Grenze mit Israels Armee zu kooperieren, und besteht darauf, dass der Übergang unter palästinensischer Kontrolle stehen müsse. Die US-Regierung verhandelt mit Kairo in diesen Tagen über eine erneute Öffnung. Die letzte Liste mit den Namen zur Ausreise bewilligter Palästinenser veröffentlichte die Firma Hala Consulting and Tourism auf Facebook am 5. Mai – zwei Tage, bevor Israel die Kontrolle über den Grenzübergang Rafah übernahm.

    Ahmad Khalil schaffte es rechtzeitig heraus. Dank der gesammelten Spenden gelang es ihm im April, nach Kairo zu seiner Familie zu reisen. Er brauche nun eine Reihe aufwendiger Operationen, berichtet er. Fotos auf der Seite seiner Crowdfunding-Kampagne, die ein Freund der Familie regelmäßig aktualisiert, zeigen ihn mit verbundenem Arm im Krankenhaus, mit einer Schiene am Bein, mit offener Wunde am Oberarm. Die Spendenkampagne läuft weiter, sowohl um Geld für seine Behandlungen zu sammeln, als auch um seine Familie zu unterstützen. Ägyptens Hauptstadt, ihr neues Zuhause, mag aus westlicher Sicht günstig sein, für Geflüchtete aus Gaza ist sie es nicht – zumal Ahmad Khalil, der als Geschäftsentwickler und Projektkoordinator in einem Gründerzentrum gearbeitet hatte, wegen seiner Verletzungen nicht arbeiten kann.

    "Gerade konzentriere ich mich auf meine Behandlungen", schreibt er via Facebook. "Ich hoffe, dass ich in Zukunft wieder ein normales Leben führen und eine eigene Firma gründen kann, um meine Familie in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Wir haben alles verloren, und ich beginne mein Leben bei null."

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