Wer hilft, hofft gemeinhin darauf, dass sein Werk Bestand hat: „Niemand will Infrastruktur aufbauen, nur damit sie kurz darauf wieder zerstört wird“, sagte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) im Herbst 2014 auf der Geberkonferenz in Kairo, bei der in erster Linie EU-Mitglieder, die USA und arabische Staaten rund 4.3 Milliarden Euro für den Wiederaufbau des in Teilen zerstörten Gazastreifens zusagten. Doch genau das, was Steinmeier befürchtete, trat ein: Fast alles, was vor zehn Jahren und auch im Konflikt von 2021 zerstört und später wiedererrichtet wurde, liegt heute erneut in Schutt und Asche.
Mitte Juli 2014 hatten die israelischen Streitkräfte mit einer 50-tägigen Militäroperation auf anhaltende Raketenangriffe der palästinensischen Terrororganisation Hamas aus Gaza reagiert. Es gab rund 2200 Todesopfer, darunter circa 2100 Palästinenser.
Nahost-Experte Peter Lintl sieht einen entscheidenden Unterschied zu früheren Gaza-Konflikten
Ein Konflikt, im Prinzip vergleichbar mit dem aktuellen Gaza-Krieg? „Nein“, sagt Peter Lintl, Nahost-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Es gibt einen großen Unterschied: 2014 oder 2021 sollten die israelischen Gegenschläge abschrecken, heute führt Israel einen Krieg, um die Hamas vernichtend zu besiegen.“ Ein Unterschied, ausgelöst durch das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels. Am 7. Oktober stürmen Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Palästinenserorganisationen von Gaza aus die Grenze zu Israel. Sie morden, vergewaltigen und verschleppen. 1200 Tote bleiben auf israelischer Seite zurück.
Ein Unterschied, der sich auch in einem israelischen Gegenschlag spiegelt, der alle Militäroperationen der Vergangenheit in Gaza in den Schatten stellt. Die Zahl der im Gazastreifen getöteten Palästinenser ist nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde seit Kriegsbeginn vor gut drei Monaten auf mehr als 23.000 gestiegen. Darunter sollen rund 4000 Kinder sein. 136 Geiseln sollen sich noch in der Hand der Hamas befinden. Rund 70 Prozent der Gebäude in Gaza sind zerstört oder schwer beschädigt. Die humanitäre Lage ist dramatisch. „Gaza ist zu einem Ort des Todes und der Verzweiflung geworden“, sagte der Chef des UN-Nothilfebüros OCHA, Martin Griffiths.
Während der internationale Druck auch von engen Partnern wie den USA oder Deutschland auf Israel wächst, bei seiner Kriegsführung mehr Rücksicht auf Zivilisten in dem eng besiedelten Küstenstreifen zu nehmen und mehr Hilfsgüter zu den Menschen durchzulassen, hält die israelische Regierung am Kriegsziel fest, die Hamas zu vernichten. Für Experte Lintl ein Ziel, das nicht auf allen Ebenen erreichbar ist: „Die Vernichtung des militärischen Potenzials und der Führungsriege der Hamas ist potenziell möglich. Doch Ideologien kann man nicht mit militärischen Mitteln zerstören.“
Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die israelische Regierung – sie wird von einem Kriegskabinett unter Einschluss von führenden Oppositionspolitikern geführt – über keine koordinierte Planung für die Zukunft des Gazastreifens nach dem Ende des Krieges verfügt. Was auf dem Tisch liegt, sind Gedankenspiele. Einig sind sich die israelische Regierung und ihre Partner im Westen lediglich in dem Punkt, dass sichergestellt werden muss, dass von Gaza in Zukunft keine Bedrohung mehr für Israel ausgehen darf.
Die Wortmeldungen zweier rechtsextremer israelischer Minister sorgen für Entrüstung
Für Entrüstung sorgten Wortmeldungen der beiden rechtsextremen israelischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich. Ben-Gvir bezeichnete es als eine „gerechte, moralische und humane Lösung“, die Bewohner Gazas – es geht um immerhin 2,2 Millionen Menschen – "zur „Migration zu ermuntern“ und dort wieder, wie vor 2005, Israelis anzusiedeln. Scharfe Kritik für den Vorschlag einer völkerrechtswidrigen Zwangsumsiedlung kam von US-Außenminister Antony Blinken und seiner deutschen Amtskollegin Annalena Baerbock. „Die Pläne von Ben-Gvir und Smotrich sind nicht nur unrealistisch, sie haben auch im israelischen Kriegskabinett keinen Rückhalt“, sagt Lintl im Gespräch mit unserer Redaktion. Erschreckend sei jedoch, dass die Forderungen auch in Teilen des Likud, ja sogar vereinzelt in der Opposition auf Zustimmung stoßen würden.
Auch der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant lehnt den Vorschlag seiner radikalen Kabinettskollegen ab. In seinem Papier für den „Tag danach“ wird zunächst aufgeführt, was nach dem Ende des Krieges nicht passieren soll: „Die Hamas wird Gaza nicht regieren, und Israel wird keine zivile Kontrolle über Gaza ausüben“, sagte der Minister der Zeitung Haaretz. Palästinensische Akteure, die nicht für Feindschaft zu Israel stehen würden, müssten dort die Verantwortung übernehmen. Lintl ist skeptisch: „Galant will, dass die Sicherheitslage allein von Israel kontrolliert wird – Zugriffsrechte ohne eine zeitliche Beschränkung. Er spricht zudem von einer palästinensischen Verwaltung, die aber von Israel ausgesucht wird. Wer soll das sein und wie soll eine solche Behörde in Gaza Autorität aufbauen?“
Lintl hält die Vorschläge von Annalena Baerbock und Antony Blinken für bedenkenswert
Als konstruktiver empfindet Lintl die Ziele, die Blinken und Baerbock für die Zukunft Gazas formulieren: Danach darf Hamas keine Gefahr mehr für Israel darstellen, während Israel darauf verzichten muss, Gaza zu besetzen oder territorial zu beschneiden. Blinken nennt explizit eine „palästinensische Regierungsführung“ sowie eine „Vereinigung Gazas mit dem Westjordanland“ als Zukunftsmodell – eine Konstellation, die in der Konsequenz auf eine „Zwei-Staaten-Lösung“ hinauslaufen soll, wie Baerbock ergänzt.
Peter Lintl sieht in dem Blinken-Baerbock-Modell gute Ansätze: „Ich glaube, perspektivisch muss eine reformierte Autonomiebehörde in Gaza Verantwortung übernehmen. Auch wenn das noch in weiter Ferne scheint. Man müsste beginnen, zunächst einfache technische und behördliche Strukturen zu schaffen, um die Lebensbedingungen zu verbessern. Die Autonomiebehörde hat Leute, die das können.“ Natürlich weiß auch Lintl, dass dieses Konzept in Israel kaum Anklang findet.
Fragt sich nicht zuletzt, wer den Wiederaufbau der Schuttwüste Gaza eines Tages finanzieren wird. „Das Geld kann auch diesmal im Wesentlichen eigentlich nur von den USA, Westeuropa und den Golfstaaten kommen. Ob eine schrittweise Befriedung gelingt, ist aber alles andere als garantiert. Es gibt in Gaza viele Leute, die jetzt traumatisiert sind, Leute, die radikalisiert wurden, und es gibt Leute, die schon immer ideologisch radikal waren.“ Seine Befürchtung ist, dass am Ende ein „Patt auf dem Rücken der Zivilisten" drohe. „Wenn sich beide Seiten nicht einigen können, wird sich die Lage weiter verschlechtern.“