Auf jeder Seite eine mehrere Meter hohe Mauer, davor ein eiserner Zaun und zwischen den Sperranlagen eine breite Straße für Einsatzfahrzeuge: Die Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen ist ähnlich gut gesichert, wie es die zwischen der alten Bundesrepublik und der DDR über Jahrzehnte war. Unüberwindbar aber ist sie offenbar nicht, obwohl Ägypten das Bollwerk immer weiter ausbaut. Nach israelischen und arabischen Medienberichten soll der Chef der Hamas im Gazastreifen, Jihia Sinwar, durch einen Tunnel nach Ägypten geflohen sein und dabei einige israelische Geiseln mitgenommen haben. Eine offizielle Bestätigung dafür gab es am Dienstag noch nicht. Nach den Worten von Arye Sharuz Shalicar, dem Sprecher der israelischen Armee, sollte Sinwar sich im Falle eines Falles aber auch im Nachbarland nicht allzu sicher fühlen: "Es gibt keinen Ort auf dieser Welt", betont Shalicar gegenüber unserer Redaktion, "an dem die Hamas-Führung seit dem 7. Oktober sicher ist."
Durch die Tunnel kommen auch Waffen nach Gaza
Seit Wochen bereits sucht die israelische Armee nach Sinwar, den sie für den Drahtzieher der Terroranschläge hält und den sie lange in seiner Heimatstadt Chan Yunis im Süden des Küstenstreifens vermutet hat. Nun aber meldet die arabische Zeitung Elap unter Berufung auf israelische Sicherheitsbeamte, er habe sich mit seinem Bruder und einer unbekannten Zahl von Geiseln nach Ägypten abgesetzt – durch einen von insgesamt acht Tunneln in der Nähe der Grenzstadt Rafah, die teilweise so breit seien, dass ein Auto sie passieren könne und durch die auch jede Menge iranische Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt worden sein sollen.
Der 61-jährige Sinwar ist für Israel so etwas wie der Staatsfeind Nummer ein, Soldaten der israelischen Armee nennen ihn wahlweise den "Schlächter von Khan Junis" oder den "Osama bin Laden von Gaza." 24 Jahre saß er in Israel im Gefängnis, ehe er 2011 mit 1000 weiteren inhaftierten Palästinensern im Austausch für einen fünf Jahre von der Hamas gefangen gehaltenen israelischen Soldaten frei kam. "Die Hamas", sagt er über sich selbst, "ist meine Frau, meine Tochter, mein Sohn. Sie ist alles für mich."
Ägypten bemüht sich um eine Feuerpause
In der Hierarchie der Terrororganisation ist Sinwar faktisch die Nummer zwei hinter ihrem in Katar lebenden Anführer Ismail Hanija, von dem man sicher weiß, dass er sich am Dienstag in Ägypten aufhielt – zu neuen Gesprächen über eine mögliche Feuerpause. In Kairo ist die Sorge groß, dass der Krieg noch näher an das eigene Land heranrückt, wenn Israel versucht Rafah einzunehmen. Ägypten, Katar und die USA bemühen sich deshalb weiter darum, eine längere Feuerpause sowie einen Austausch weiterer Geiseln auszuhandeln. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur soll dazu inzwischen auch eine Delegation aus Israel in Kairo eingetroffen sein. Die letzte Verhandlungsrunde hatte Regierungschef Benjamin Netanjahu noch boykottieren lassen, weil die Forderungen der Hamas in seinen Augen überzogen waren. Sie verlangt unter anderem den vollständigen Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen.
Darauf aber wird Israel kaum eingehen. "Die Hamas erhebt im Moment völlig realitätsferne Forderungen", sagt der frühere Justizminister Gideo Sa'ar, der jetzt als Minister ohne Portfolio Netanjahus Kriegskabinett angehört. Israel sei bereit, einen Preis zu zahlen – aber nicht jeden. Einen Bogen um Rafah machen, wohin sich mehr als eine Million Menschen geflüchtet haben, werde Israel jedenfalls nicht, betont Sa'ar im Berliner Tagesspiegel. "Dort operieren immer noch vier Brigaden der Hamas."