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Krieg in Nahost: Israels Krieg der kleinen Schritte

Krieg in Nahost

Israels Krieg der kleinen Schritte

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    Israelische Panzer fahren entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen in Stellung.  Erstmals seit einem Jahrzehnt sind israelische Panzer wieder im Gazastreifen im Einsatz.
    Israelische Panzer fahren entlang der israelischen Grenze zum Gazastreifen in Stellung. Erstmals seit einem Jahrzehnt sind israelische Panzer wieder im Gazastreifen im Einsatz. Foto: Maya Alleruzzo, dpa

    War sie das nun, die seit Wochen erwartete Bodenoffensive im Gazastreifen? Am Samstagabend herrschte unter vielen Nahost-Beobachtern in den sozialen Medien Verwirrung. Die „nächste Phase“ des Krieges habe begonnen, verkündete ein Sprecher der israelischen Armee, der IDF; die Truppen kämpften gegen die Hamas „aus der Luft, zu Lande und zur See“. Erstmals seit einem Jahrzehnt sind israelische Panzer wieder im Gazastreifen im Einsatz. Aktuelle Videos der Armee zeigen gepanzerte Fahrzeuge, die im Norden des Küstenstreifens über sandigen Boden rollen. Daneben laufen Soldaten in Schutzausrüstung mit großen Rucksäcken und Sturmgewehren. Eine Bestätigung, dass damit der Einmarsch nun offiziell begonnen habe, gab es aber nicht – und vermutlich wird es sie auch nicht mehr geben. Denn anstelle einer schnellen und massiven Reaktion, die viele nach den Gräueltaten der Hamas erwartet hatten, hat sich die IDF wohl für ein schrittweises Vorgehen entschieden. Ein solches birgt aus israelischer Sicht mehrere Vorteile – aber auch Risiken.

    Die Hamas hat als Folge ihrer Gräueltaten eine Bodenoffensive zweifellos erwartet – und sich darauf vorbereitet. Israelische Sicherheitsexperten fürchten, die Hamas könnte die Soldaten in Hinterhalte locken und in opferreiche Häuserkämpfe verwickeln. Wie der für gewöhnlich gut informierte Economist mit Berufung auf hochrangige Armeevertreter berichtete, hat die IDF jedoch einen anderen Plan: Sie will Gaza-Stadt, das größte urbane Gebiet des Gazastreifens, Schritt für Schritt einkreisen und belagern. Die Hamas hat israelischen Angaben zufolge große Mengen an Treibstoff und Lebensmittel in ihrem Tunnelsystem gelagert. Die Belagerung könnte sie dazu zwingen, ihre Tunnel zu verlassen, sobald die Reserven aufgebraucht sind.

    Hisbollah scheint kein ernsthaftes Interesse an einer Eskalation zu haben

    Zudem hofft die Armee demnach, dass eine schrittweise Eskalation das Risiko eines regionalen Flächenbrands mindert. Im Norden Israels kommt es derzeit täglich zu Gefechten zwischen der Armee und der proiranischen Hisbollah im Libanon, die ebenso wie die Hamas von westlichen Staaten als Terrororganisation gelistet wird. Seit Langem warnen Sicherheitsexperten vor einem Zwei-Fronten-Krieg. Das iranische Regime, das sowohl die Hamas als auch die Al-Jazeera. Dass die Hisbollah bislang vor einer Eskalation zurückschreckt, spricht allerdings eher dafür, dass sie an einer ernsthaften Konfrontation mit Israel derzeit kein Interesse hat.

    In mindestens einer Hinsicht aber spielt die Zeit gegen Israel: Je länger der Krieg dauert, je mehr Zivilisten dabei sterben und je dramatischer die Berichte über die humanitäre Lage in Gaza werden, desto mehr dürfte der internationale Druck auf Israel zunehmen, während die Gräueltaten der Hamas in der globalen Wahrnehmung in den Hintergrund rücken. Die am Freitag mit großer Mehrheit beschlossene Resolution der UN-Generalversammlung, die eine sofortige humanitäre Feuerpause forderte, ist bereits ein Zeichen dafür. 

    Israel will das Leben der Geiseln nicht gefährden

    "Es wird kein Blitzkrieg und kein Sechstagekrieg sein", sagte Amos Jadlin, ehemaliger Chef des israelischen Militärgeheimdienstes. Die Armee werde "Meter für Meter" vorangehen, um zivile Opfer zu verringern und "so viele Hamas-Terroristen wie möglich zu töten", sagte er. Die meisten Gegner würden dabei in Tunnel oder die "unterirdische Stadt" der Hamas fliehen, erwartet Jadlin, ehemaliger Leiter des Instituts für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) in Tel Aviv. "Die Herausforderung wird es sein, die Tunnel zu zerstören oder sie herauszubekommen, mithilfe der einen oder anderen Technik."

    Und dann ist da noch das schwierigste Dilemma Israels in diesem Krieg: die mindestens 229 Geiseln in Gaza, darunter etliche Kinder und sogar Babys. Die Hamas behauptet, Dutzende von ihnen seien bereits bei israelischen Luftschlägen ums Leben gekommen. Die israelische Seite tut das als psychologische Kriegsführung ab. Dennoch: Für die Angehörigen der Entführten bedeutet jeder israelische Angriff auch eine Bedrohung ihrer Liebsten.

    Angehörige der Geiseln haben Angst

    Die betroffenen Familien üben deshalb ihrerseits Druck auf die Regierung aus. Die Nacht auf Samstag, in der die IDF ihre Angriffe in Gaza ausweitete, beschrieben sie in einer Mitteilung als „schlimmste aller Nächte“. Es bestehe „Angst, Frustration und vor allem enorme Wut darüber, dass sich niemand aus dem Kriegskabinett die Mühe gemacht hat, sich mit den Familien der Entführten zu treffen, um ihnen eines zu erklären – ob die Bodenoperation die Sicherheit der 229 Geiseln in Gaza gefährdet“, hieß es. Auf etlichen Fassaden, Mauern und Laternenmasten kleben in Israel inzwischen Plakate mit der Aufschrift „All for all“ – die Forderung, alle wegen Terror inhaftierten Palästinenser freizulassen im Austausch für die Geiseln.

    Ministerpräsident Benjamin Netanjahu traf die betroffenen Familien am Samstagabend auf deren Drängen. Israel werde „alles Mögliche unternehmen“, um die Entführten zu befreien, versprach er. Doch seine zahlreichen Kritiker überzeugt er damit nicht. Am selben Abend demonstrierten vor Netanjahus Privatresidenz in der wohlhabenden Küstenstadt Caesaria mehrere Hundert Menschen und forderten seinen Rücktritt. In anderen Städten, darunter Jerusalem, Herzliya und Beersheva, demonstrierten Menschen für einen Gefangenenaustausch. Dem Rekord-Premier, dem seine Chance auf Wiederwahl bekanntlich viel bedeutet, dürfte dieser innere Druck weit wichtiger sein als jede Rüge der UN.

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