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Krieg in Nahost: Die Regierung Netanjahu erodiert im Zeitraffer

Krieg in Nahost

Die Regierung Netanjahu erodiert im Zeitraffer

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    Der innenpolitische Druck auf den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu wächst weiter. Auch in der eigenen Partei gehen wichtige Akteure auf Distanz.
    Der innenpolitische Druck auf den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu wächst weiter. Auch in der eigenen Partei gehen wichtige Akteure auf Distanz. Foto: Debbie Hill, Pool UPI/AP/dpa

    Das Urteil des früheren Armeechefs hätte kaum härter ausfallen können. „Persönliche und politische Erwägungen haben begonnen, sich auf die heiligsten Teile der israelischen Verteidigung auszuwirken“, sagte Benny Gantz, Chef der zentristischen Partei Nationale Union und Mitglied des israelischen Kriegskabinetts, am vergangenen Wochenende in einer Fernsehansprache. Sofern die Regierung nicht bis zum 8. Juni einen Plan zur Erfüllung sechs strategischer Ziele verabschiedet habe, darunter die Bildung einer „amerikanisch-europäisch-arabisch-palästinensischen“ Führungsalternative für den Gazastreifen, werde Gantz die Koalition verlassen. „Premierminister Netanjahu, ich sehe Ihnen in die Augen und sage Ihnen: Die Entscheidung liegt in Ihrer Hand“, schloss Gantz untypisch dramatisch. 

    Die Antwort des Premiers folgte innerhalb einer Stunde. „Die Bedingungen, die Benny Gantz gestellt hat, sind leere Worte, deren Bedeutung klar ist: ein Ende des Krieges und eine Niederlage Israels; die meisten Geiseln aufgeben, die Hamas bestehen lassen und einen palästinensischen Staat gründen.“

    Auch Netanjahus Parteifreund, Verteidigungsminister Gallant, geht auf Distanz

    Der schnippische Ton kann indes nicht hinwegtäuschen über den Druck, unter dem der Regierungschef steht. Nur drei Tage vor Gantz’ Rede hatte Verteidigungsminister Yoav Gallant, der Netanjahus rechter Likudpartei angehört, dessen Führung ein ähnlich schlechtes Zeugnis ausgestellt. Die Weigerung der Regierung, ein strategisches Szenario für die Zeit nach dem Krieg zu planen, könne in einer israelischen Militärherrschaft in Gaza münden – ein „gefährlicher“ Pfad, für den Gallant nicht zur Verfügung stehe.

    Israelische Analysten warnen seit geraumer Zeit, dass die Weigerung oder Unfähigkeit der israelischen Regierung, für den „Tag danach“ zu planen, die Errungenschaften der Armee zunichtezumachen droht. Wann immer die Armee, die IDF, ihre Truppen aus einer Stadt, einem Dorf, einem Flüchtlingslager abzieht, tauchen dort über kurz oder lang wieder Männer der Hamas auf und füllen das lokale Führungsvakuum.

    Der Versuch des Premiers, palästinensische Akteure einzubinden, scheiterte kläglich

    Netanjahu hatte zwischenzeitlich von unabhängigen palästinensischen Akteuren, etwa Geschäftsleuten oder Clanchefs, gesprochen, die in Gaza lokale Autorität übernehmen könnten. Doch Versuche, solche Personen etwa zur Verteilung von Hilfsgütern zu gewinnen, scheiterten kläglich: Niemand wollte das Risiko eingehen, von der Hamas als „Kollaborateur“ gejagt zu werden. 

    Die US-Regierung wiederum plädiert dafür, der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die de-facto-Regierung der Palästinenser im Westjordanland, die Verantwortung über Gaza zu übertragen. Doch Netanjahu lehnt ein solches Szenario vehement ab, wissend, dass seine radikalen Koalitionspartner dem niemals zustimmen würden. Im Gegenteil: Die rechtsextremen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich fordern offen die Wiedererrichtung israelischer Siedlungen im Gazastreifen sowie die „freiwillige“ Auswanderung Hunderttausender Palästinenser. 

    Experte warnt, dass nur rechte und rechtsextreme Parteien im Kabinett bleiben könnten

    Trotz der tiefen Risse in der Koalition sieht die Politikwissenschaftlerin Gayil Talshir von der Hebräischen Universität in Jerusalem die Stabilität der Regierung nicht als unmittelbar gefährdet. Selbst wenn Gantz seine Drohung wahrmachte und sich am 8. Juni aus der Regierung zurückzöge, blieben Netanjahu und seinen rechten Partnern schließlich noch 64 von insgesamt 120 Mandaten. Ein solches Szenario – eine Koalition aus rechten, rechtsextremen und ultraorthodoxen Parteien – sei in Zeiten des Krieges jedoch „extrem gefährlich. Und ich glaube, Gantz weiß das“, sagte die Expertin gegenüber dieser Zeitung. „Ich vermute, dass er nicht wirklich die Koalition verlassen will, sondern versucht, Netanjahu zu Entscheidungen zu zwingen.“

    Zu Gantz’ Forderungen gehört auch, eine Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien voranzubringen. Die US-Regierung bemüht sich seit geraumer Zeit um ein solches Abkommen; am Samstag reiste der nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, für entsprechende Gespräche nach Saudi-Arabien und am Sonntag weiter nach Israel. Die Chance auf einen Durchbruch ist allerdings gering.

    Auch die Verständigung mit Saudi-Arabien ist in Gefahr

    „Es ist äußerst merkwürdig, dass Netanjahu nicht auf diese Initiative aufspringt“, meint Talshir, „schließlich ist das seit 20 Jahren sein Argument: dass Israel ein Bündnis mit den moderateren arabischen Staaten schließen muss“. Doch die saudische Führung hat ein israelisches Bekenntnis zur Gründung eines palästinensischen Staates zur Bedingung gemacht. Und ein solches kann Netanjahu unmöglich gewähren, ohne ein anderes Bündnis zu gefährden: jenes mit seinen rechtsradikalen Koalitionspartnern.

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