Der Gaza-Krieg weitet sich zu einem regionalen Großkonflikt vom Irak bis zum Jemen aus. Der Iran griff jetzt zum ersten Mal direkt in die Auseinandersetzung ein und beschoss Ziele im Irak und in Syrien. Gleichzeitig nahmen die iranisch unterstützten Huthi-Rebellen im Jemen wieder Schiffe im Roten Meer unter Beschuss und erklärten westliche Kriegsschiffe zu „legitimen Zielen“. Experten sehen eine Eigendynamik des Konflikts, die den ganzen Nahen Osten erfassen könnte.
Iranische Drohnen und Raketen trafen in der Nacht zum Dienstag mehrere Gebäude in der Nähe des US-Konsulats im nordirakischen Erbil. Dabei starben mindestens vier Menschen, darunter ein nordirakischer Geschäftsmann und seine Familie. Teheran erklärte, Ziel der Angriffe sei ein Stützpunkt des israelischen Geheimdienstes Mossad in Erbil gewesen. Die nordirakische Regionalregierung wies das zurück. Die Angriffe in Syrien galten nach iranischen Regierungsangaben mutmaßlichen Stellungen des Islamischen Staates (IS).
Es handelt sich um die ersten iranischen Raketenangriffe seit Ausbruch des Gaza-Krieges
Der türkische Iran-Experte Arif Keskin betrachtet die ersten iranischen Raketenangriffe seit Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober als Wegscheide: Gegner der Islamischen Republik hätten sich bisher darauf verlassen, dass Teheran nur indirekt über verbündete Milizen an dem Konflikt teilnehme, sagte Keskin unserer Zeitung. Jetzt habe der Iran das Gegenteil demonstriert.
Der Iran hatte seit dem Hamas-Überfall auf Israel und dem Beginn der israelischen Gegenoffensive in Gaza zwar Angriffe auf den jüdischen Staat und US-Einrichtungen im Nahen Osten gutgeheißen, sich aber selbst bisher aus dem Konflikt herausgehalten. Revolutionsführer Ali Chamenei will den Gaza-Krieg nutzen, um Israel und die USA zu schwächen. Er hinderte pro-iranische Gruppen wie schiitische Milizen im Irak oder die Huthis im Jemen deshalb nicht daran, westliche Ziele anzugreifen. Einer direkten Konfrontation mit den USA und Israel war Chamenei bisher aber aus dem Weg gegangen.
Teheran hat durch Luftangriffe viele wichtige Offiziere verloren
Nun ändert der Iran seinen Kurs, weil er in den vergangenen Wochen mehrere Rückschläge erlitten hatte. Teheran verlor durch israelische und amerikanische Luftangriffe wichtige Offiziere und Verbündete im Nahen Osten: Im Dezember tötete Israel den iranischen General Sajed Razi Musavi, den höchsten iranischen Befehlshaber in Syrien, sowie den stellvertretenden Hamas-Chef Saleh al Aruri; Anfang Januar kam ein hochrangiger Kommandeur einer pro-iranischen Miliz im Irak bei einem US-Drohnenangriff in Bagdad ums Leben. Außerdem töteten IS-Extremisten im iranischen Kerman fast hundert Menschen. Diese Verluste ließen das iranische Regime schwach und wehrlos aussehen.
Der Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad, Gründungsdirektor der Berliner Denkfabrik CMEG, sieht im iranischen Raketenbeschuss einen „Verzweiflungsschlag“: Innenpolitisch stehe das Regime unter Druck, weil sich vor den Parlamentswahlen im März eine sehr niedrige Wahlbeteiligung abzeichne, sagte Fathollah-Nejad unserer Zeitung. Möglicherweise hoffe Teheran auf amerikanische oder israelische Vergeltungsschläge im Iran selbst, um eine Gefahr von außen zu erzeugen und die Zustimmung zum Regime zu stärken.
Eine Ausweitung des Krieges auf den gesamten Nahen Osten will der Iran nicht
Dennoch wolle der Iran keine Ausweitung des Gaza-Krieges auf den ganzen Nahen Osten, sagt Oytun Orhan von der Nahost-Denkfabrik Orsam in Ankara. Der Konflikt könne allerdings dieser Kontrolle entgleiten und zu einem Krieg eskalieren, sagte Orhan unserer Zeitung. Das sei schon passiert, meinen andere Beobachter: Wer nicht sehen wolle, dass im Nahen Osten ein regionaler Krieg begonnen habe, mache sich etwas vor, schrieb Charles Lister vom Nahost-Institut in Washington auf Twitter.
Neben dem Irak gehört auch Syrien zu den Schlachtfeldern dieses regionalen Konfliktes, meint Iran-Experte Keskin. Wenn der Iran wirklich den IS-Anschlag von Kerman hätte rächen wollen, dann hätte er die Untergruppe des IS in Afghanistan angegriffen, die das Blutbad von Kerman verübt habe. Stattdessen schlugen die iranischen Raketen im nordwestsyrischen Idlib ein. Teheraner Staatsmedien meldeten, die Geschosse seien vom Süden des Iran auf Idlib abgefeuert worden. Der Iran lasse die Welt absichtlich wissen, dass seine Raketen sogar Ziele in mehr als tausend Kilometer Entfernung erreichen können, meint Keskin: „Die Iraner sagen: ‚Wenn wir Syrien treffen können, können wir auch Israel treffen.‘“
Auch der Konflikt im Roten Meer eskaliert wieder. Die Huthi-Rebellen griffen einen amerikanischen Frachter mit einer Rakete an. Ein Sprecher der Rebellen sagte Al-Dschasira, seine Gruppe nehme wegen der Angriffe der letzten Woche jetzt auch amerikanische und britische Kriegsschiffe ins Visier.