„Bringt sie nach Hause – jetzt!“ An Tausenden Fassaden und Bushaltestellen in ganz Israel prangt diese Forderung in roten Buchstaben, darüber die Gesichter der Geiseln mit Namen und Alter. Kfir, zehn Monate, steht unter dem Bild eines lachenden Babys. Kfir Bibas und sein Bruder Ariel, vier Jahre, werden seit über sechs Wochen im Gazastreifen festgehalten, zusammen mit ihren Eltern. Nun könnten die Kinder freikommen – wenn in letzter Minute nichts mehr schiefgeht: Am Mittwoch in den frühen Morgenstunden stimmte Israels Kabinett nach hitziger Debatte für eine Einigung mit der Terrororganisation Hamas zur Befreiung einiger Geiseln. Die Rede ist von 50 Menschen: 30 Kinder, acht Mütter und zwölf ältere Frauen.
Wer zu den Glücklichen zählt, war bis Mittwochnachmittag noch unklar, ebenso die Frage, wann die ersten befreit werden. Doch in den Grundrissen sieht die Einigung so aus: Bald, vielleicht schon Donnerstag, soll im Gazastreifen eine viertägige Kampfpause beginnen. An jedem dieser Tage soll die Hamas eine bestimmte Zahl israelischer Geiseln freilassen. Im Gegenzug hat Israel sich dazu verpflichtet, 150 weibliche und minderjährige palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen zu entlassen. Außerdem sollen die humanitären Hilfen für die Palästinenser in Gaza erheblich ausgeweitet werden und das Rote Kreuz soll die verbleibenden Geiseln besuchen und mit Medikamenten versorgen können. Bislang ist nicht einmal sicher, wie viele der Geiseln überhaupt noch am Leben sind: Bei ihren Einsätzen hatten israelische Truppen unlängst die Leichen zweier weiblicher Geiseln gefunden.
Die Kampfpause in Gaza könnte auch verlängert werden
Israelischen Angaben zufolge könnte die Kampfpause nach Ablauf der vier Tage zudem verlängert werden, im Austausch für zehn weitere Geiseln pro Tag. Eine längere Feuerpause oder gar ein Waffenstillstand, wie manche Hilfsorganisationen ihn fordern, ist jedoch nicht zu erwarten. „Wir werden den Krieg fortführen, bis wir all unsere Kriegsziele erreicht haben“, hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Nacht auf Mittwoch verkündet, „die Hamas zu eliminieren, alle unsere Geiseln und Vermissten zurückzubringen und sicherzugehen, dass in Gaza kein Element zurückbleibt, das Israel bedroht“.
Israels Staatspräsident Yitzhak Herzog stellte sich hinter die Einigung. Diese sei „eine moralische und ethische Pflicht, die dem jüdischen und israelischen Wert entspricht, Gefangene zu befreien“, sagte er am Mittwochmorgen, „in der Hoffnung, dass dies der erste Schritt sein wird, um sämtliche Geiseln nach Hause zu holen“. Das sieht in Israel indes nicht jeder so. Die drei Minister der rechtsextremen Partei „Jüdische Stärke“ stimmten gegen den Deal. Die Hamas werde die Feuerpause nutzen, um sich auf die kommenden Kämpfe besser vorzubereiten, warnte auch Yossi Yehoshua, der Militärreporter der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth.
Die Mehrheit der Hamas-Geiseln wird wohl zunächst nicht freikommen
Die Angehörigen der Entführten haben derweil leidvolle Wochen hinter sich. Manche werden, sofern nichts mehr schiefgeht, bald ihre Lieben in die Arme schließen dürfen. Andere müssen weiter um das Leben der Vermissten bangen. Denn selbst wenn die Freilassung wie geplant abläuft, wird die Mehrheit der rund 240 Verschleppten weiter im Gazastreifen ausharren müssen.
Unter ihnen ist der 33-jährige Or Levy, Vater eines zweijährigen Sohnes. Am 7. Oktober hatte Levy mit seiner Frau Einav das Nova-Festival im Süden besucht, das die Hamas an jenem Tag überfiel. Einav wurde ermordet, Or Levy entführt. Sein Bruder Michael Levy, 40, ist derzeit zusammen mit anderen Geisel-Angehörigen in Rom, um dort Politiker zu treffen und um Unterstützung für die Befreiung der Entführten zu werben. „Das ist kein einfacher Tag für mich“, gesteht er am Telefon. „Ich habe gemischte Gefühle. Auf der einen Seite freue ich mich über jede einzelne Geisel, die befreit wird. Wenn wirklich Kinder und Mütter freikommen, macht mich das als Vater sehr glücklich. Andererseits will ich natürlich, dass mein Bruder und die anderen auch befreit werden. Ich versuche, mich auf die Hoffnung zu konzentrieren, dass das hier nur der Anfang ist.“