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Krieg in der Ukraine: Wie ein Ehepaar aus Odessa versucht, dem Krieg zu trotzen

Krieg in der Ukraine

Wie ein Ehepaar aus Odessa versucht, dem Krieg zu trotzen

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    Elena und ihr Erast: Mutterglück gibt es auch in schweren Kriegszeiten. Aber wegen der ständigen Stromausfälle brennen häufig die Kerzen.
    Elena und ihr Erast: Mutterglück gibt es auch in schweren Kriegszeiten. Aber wegen der ständigen Stromausfälle brennen häufig die Kerzen. Foto: Till Mayer

    Das Treppenhaus hat keine Fenster. Es ist eng. Eine Holztreppe führt in den ersten Stock. "Wenn jetzt der Strom ausfällt, ist es stockdunkel", sagt Elena und legt ihren Erast in den strahlend weißen Kinderwagen. Dann folgt ein kurzes Klack. Völlige Finsternis. Elena seufzt leise. Stromrationierung ist Alltag für die junge Mutter in Odessa. Wenige Sekunden später wirft die Taschenlampe des Smartphones einen Lichtkegel ins Dunkel. 

    "Das ging dieses Mal schnell mit der nächsten Sperre. Über 20 Stunden hatten wir keinen Strom. Jetzt, kaum eine Stunde später, geht es schon wieder los. Ganz so schlimm ist es sonst zum Glück meistens nicht mit den Stromsperren. Sie kommen meist phasenweise, und man kann sich halbwegs darauf einstellen." Dann öffnet sie die Haustüre und bugsiert den Kinderwagen samt Sohnemann in das dämmrige Licht eines winterlichen Spätnachmittags. Odessa ist von den russischen Angriffen auf die zivile Energie-Infrastruktur besonders betroffen. 

    Odessa ist eine wunderschöne Stadt

    "Eine halbe Stunde am Tag soll der kleine Erast im Freien ein wenig frische Luft atmen. Das ist gut für seine Lunge", erklärt die Mutter. Dann muss sie deutlich lauter sprechen. Denn überall heulen jetzt die Generatoren auf. Sie stehen vor den Cafés und Geschäften und sorgen für den wichtigen Strom. Es ist eine brummende, misstönende Symphonie, die Mutter und Kind auf dem Spaziergang begleiten. "Macht nichts, mein Odessa ist trotzdem wunderschön. Weltläufig und elegant, oder nicht?", sagt eine stolze Bewohnerin. Elena und ihr Mann Oleksii wohnen im alten Stadtzentrum der Hafenstadt. Fassaden stolzer Bürger- und Händlerhäuser bestimmen das Straßenbild. Einmal Oper und zurück, das sind für Elena und Erast exakt eine halbe Stunde. 

    Tanzstunde im Dunkeln: Studio-Chef Oleksii und seine Kurs-Teilnehmenden bieten bei Latino-Rhythmen dem Krieg die Stirn.
    Tanzstunde im Dunkeln: Studio-Chef Oleksii und seine Kurs-Teilnehmenden bieten bei Latino-Rhythmen dem Krieg die Stirn. Foto: Till Mayer

    "Die Sandsäcke links und rechts des Eingangs haben sie mittlerweile entfernt", sagt die 37-Jährige an der Oper. Sie wurde 1887 eröffnet und gilt als ein Wahrzeichen der Stadt. Die Architekten stammten aus Wien. Der Stil steht ganz in der Tradition des Historismus. Elena übertreibt nicht, Odessa ist eine durch und durch edle Stadt. 

    "Hoffentlich war das mit den Sandsäcken nicht voreilig", sagt Elena. Der Krieg hat ihr einiges abverlangt. "Zu Beginn der Invasion saß ich mit meinem Mann im nasskalten Luftschutzkeller. Ich war völlig verstört. Luftangriffe, so etwas hatte ich nie erlebt. Die Angst war furchtbar." Um dem feuchten Kellerloch zu entkommen, weicht Elena mit ihrem Mann zu den Schwiegereltern am Stadtrand aus. Ausgerechnet dort schlägt in der Nachbarschaft eine Rakete ein. "Ich habe einen großen Feuerball gesehen, die Fenster haben wegen der Explosion gezittert." Elena klingt angespannt, als sie erzählt. 

    „Unser Odessa steht auf Putins Eroberungsliste.“

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    Dann im Frühjahr und Sommer normalisiert sich die Lage in Odessa etwas. Vor allem nachts heulen weiter die Sirenen und Warn-Apps. Immer wieder kommt es zu Einschlägen, meist im Umfeld der Stadt. Auf dem Schlachtfeld läuft es zunehmend schlechter für die russische Armee. Sie erfährt schwere Niederlagen. Zu einer Invasion auf Odessa ist sie derzeit nicht mehr in der Lage. "Aber wir alle in der Stadt wissen, unser Odessa steht auf Putins Eroberungsliste. Der Mann hört nicht auf, wenn er nicht besiegt wird", meint die junge Mutter mit ärgerlicher Stimme, als sie den Kinderwagen dreht und in Richtung eines nahen Parks läuft. 

    Die nächste Phase des Kriegs kommt für Elena im Oktober vergangenen Jahres. "Da begannen die gezielten Bombardierungen auf unsere Energieversorgung. Überall in der Ukraine sollten im Winter die Lichter und Heizungen ausgehen. Das ist noch immer der Plan der Russen. Aber sie kriegen uns nicht klein. Unsere Luftabwehr holt die meisten der Drohnen vom Himmel, und wir stellen uns auf Stromrationierungen ein", sagt sie. 

    "Im Luftschutzkeller gingen die Lichter aus"

    Elena schüttelt wütend den Kopf und fügt hinzu: "Als die ganzen Angriffe mit den Kamikaze-Drohnen mehr und mehr wurden, ausgerechnet da kam mein Erast auf die Welt." Das war am 4. Dezember. "Erast konnte es ganz offensichtlich nicht erwarten, auf die Welt zu kommen. Drei Wochen zu früh", berichtet die Ukrainerin. Russischer Beschuss ließ am Tag der Geburt auch nicht auf sich warten. "Erast war noch nicht lange auf der Welt, da musste ich mit meinem Mann schon in den Luftschutzkeller des Krankenhauses. Es war furchtbar. Wir hörten Explosionen. Wie aufgereiht saßen wir jungen Mütter da. Mein kleiner Erast musste da ja auch regelmäßig mit Infrarot-Licht bestrahlt werden. Plötzlich war für kurze Zeit sogar der Strom weg. Die Lichter im Luftschutzkeller gingen aus", erklärt Elena die Lage. "Der Strom war zum Glück schnell wieder da, mit der Wasserversorgung im Krankenhaus sah es leider anders aus. Das dauerte. Als wir wieder auf den Zimmern waren, bekamen wir Plastiktüten in die Hand gedrückt. Sozusagen für die große Toilette. Es war ja kein Wasser für die Spülung da", erzählt Elena und scheint sich selbst zu wundern, was sie alles erlebt hat. 

    Dann schweigt sie, schiebt den Wagen durch die angenehme Stille des Parks. Kein Generatoren-Geratter ist zu hören. Es geht vorbei an einer Hauswand. Dort blickt als Pop-Art-Kunst ein Kämpfer mit tragbarem Raketenwerfer von der Fassade. Der Krieg hat in der Ukraine überall Einzug gehalten, in der Street-Art bis zur Geburtsstation. 

    Elena blickt nachdenklich auf den Soldaten. "Ja wir müssen uns wehren. Trotzdem hoffe ich, dass sie meinen Oleksii nicht einziehen. Er wäre kein guter Soldat. Er ist Tänzer und nicht für den Krieg gemacht. Ich habe oft große Angst, wie es wohl jede Frau hat, die ihren Mann liebt. Aber er würde nicht weglaufen. Das ist ein sehr, sehr schwieriges Thema für uns", sagt die 37-Jährige nachdenklich. "Auch dass der Krieg so lange dauert. Zuerst dachten wir, nach wenigen Wochen geben die Russen auf, weil sie ihre Ziele nicht erreichen. Dann wurden es Monate. Jetzt haben wir schon ein Jahr Krieg. Manchmal muss ich stark sein, um die Hoffnung nicht zu verlieren. Aber eigentlich bin ich mir sicher. Wir werden gewinnen." 

    „Schau’ doch mal bei meinem Mann vorbei, wie er im Dunklen tanzt.“

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    Für die anstehende Frühjahrsoffensive braucht die ukrainische Armee mehr Personal. Und auch für die laufenden schweren Abwehrkämpfe. Viele Kämpferinnen und

    Das Schlachten im Donbass schmerzt sie: "So viele müssen sterben, verlieren ihr Zuhause. Niemand in der Ukraine wollte diesen Krieg. Er wurde uns aufgezwungen. Wir lassen uns unsere Freiheit und unser Land nicht nehmen. Mein Erast wird in einer freien und gerechten Ukraine aufwachsen. So ist das." Dann fügt sie hinzu: "Es ist traurig, dass ich das als eine Frau sagen muss, die gerade Leben geschenkt hat. Aber wir brauchen dazu auch die notwendigen Waffen. Eine Luftabwehr, die uns vor den Drohnen und Raketen schützt. Panzer, damit die russischen Soldaten endlich aus unserem Land vertrieben werden." 

    Wieder in der Wohnung zurück, muss sie schon die Kerzen anzünden. Es ist dunkel geworden. "Das schaut jetzt sehr romantisch aus. Aber leider funktioniert ohne Strom auch unsere Gasheizung nicht. Dann kann es schon etwas unangenehm werden. Und mein kleiner Erast braucht viel Wärme. Aber jetzt schau’ doch mal bei meinem Mann vorbei, wie er im Dunklen tanzt", fordert sie den Journalisten auf. 

    Auch im Tanzsaal in Odessa fließt kein Strom

    Gut 25 Minuten dauert es mit dem Auto zur Tanzschule von Oleksii. In einem Hochhaus aus Sowjetzeiten hat er sich einen Saal gemietet. Die Gebäude versinken in der Dunkelheit. Die Fenster schwarz, die Straßenlaternen davor ebenfalls. Vor der Invasion brachte er vor allem Kindern und Jugendlichen das Tanzen bei. Viele seiner Schülerinnen und Schüler sind geflohen. "Dann habe ich gemerkt, dass gerade Erwachsene jetzt das Tanzen brauchen. Etwas Schönes in dieser dunklen Zeit." 

    Dunkle Zeit ist allzu sprichwörtlich. Auch im Tanzsaal fließt kein Strom. Ein halbes Dutzend kleiner LED-Leuchten mit Akkubetrieb spenden ein wenig Licht. Vor allem Frauen wagen sich auf das Parkett. Das liegt teilweise fast völlig im Dunklen. Nur im Bereich der Lampen ist der Holzboden spärlich erleuchtet. Die Gruppe übt ihre Schritte. Es geht hinein ins Licht, hinaus aus dem Licht. Im riesigen Spiegel, der am Saalende die Wand bedeckt, sieht man Gesichter, die das Licht erleuchten. Dahinter sind nur noch Konturen der Tanzenden auszumachen. Es ist eine fast mystisch wirkende Stimmung. 

    „Entschuldige, ich bin hundemüde.“

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    "Aber elektrisches Licht wäre trotzdem schon ganz gut", lacht Oleksii. Die Tanzstunde ist um. In den Gesichtern steht Freude geschrieben. "Danke, dass Tanzen hat heute wieder gutgetan", sagt eine Mittvierzigerin zum Abschied. Mit Oleksii geht es nach Hause zurück. "Entschuldige, ich bin hundemüde. Seit vier Uhr bin ich wach, der Kleine sorgt für wenig Schlaf, und dann die Sache mit dem Strom." In Odessa haben die Menschen gelernt: Ist Strom da, schnell unter die warme Dusche, die Haare waschen, die Heizung voll aufdrehen. Smartphones und Akkus müssen geladen werden. 

    Oleksii ist nun endlich zu Hause angekommen. Elena und Erast erwarten ihn im Kerzenlicht. Auf dem Gasherd kocht das Wasser für einen warmen Tee. Dann werden sich die drei gemeinsam unter die Decke mümmeln. Es ist etwas kalt geworden in der Wohnung. Das Ehepaar wird hoffen, dass nachts nicht wieder die Sirenen heulen – und dass vor allem Erast viele, viele Stunden durchschläft. Und vielleicht haben sie dann auch noch Strom – am Morgen. 

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