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Krieg in der Ukraine: Wie der Krieg die ukrainische Nation geeint hat

Krieg in der Ukraine

Wie der Krieg die ukrainische Nation geeint hat

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    Ein Teddy wird mit einem Herz in den Farben des Landes geschmückt. Patriotische Symbole sind in der Ukraine omnipräsent.
    Ein Teddy wird mit einem Herz in den Farben des Landes geschmückt. Patriotische Symbole sind in der Ukraine omnipräsent. Foto: Friso Gentsch, dpa

    Drei Wochen vor dem Krieg ist Kiew ein Wintermärchen. Bürgermeister Vitali Klitschko steht im Schnee und sagt diesen schlichten Satz in die Kameras: „Wir werden kämpfen.“ Weiter im Westen halten das viele für Boxerfolklore. Schließlich war Klitschko einst Weltmeister im Schwergewicht. In Berlin, Paris und Brüssel zweifelt Anfang Februar 2022 niemand daran, dass die russische Armee die Ukraine „überrennen“ wird, wenn Putin das will. Weil die Großmacht militärisch als weit überlegen gilt. Aber auch, weil fast alle im Westen die Ukraine für ein zutiefst gespaltenes Land halten. 

    Ein Jahr später muss man sich die Sicht von damals noch einmal vor Augen führen, um wenigstens heute zu verstehen, was man damals nicht gesehen hat. Im Westen so wenig wie im Kreml. Denn Putin teilt im Februar 2022 die Klischees über die Ukraine. Das Land habe „keine gefestigte Tradition einer eigenen Staatlichkeit“, sagt er, bevor er den Angriffsbefehl erteilt. Er ahnt nicht, dass die Menschen im Nachbarland fest entschlossen sind, ihre Heimat zu verteidigen. Doch so kommt es. Vom ersten Kriegstag an hat es die russische Armee mit einem geeinten Gegner zu tun. Von wegen Spaltung in einen proeuropäischen Westen und einen prorussischen Osten: In einer aktuellen Umfrage sagen 97 Prozent der Ukrainer, man werde die Invasion zurückzuschlagen. 

    Wo ist all das Trennende geblieben?

    Wo ist all das Trennende geblieben, von dem so oft die Rede war, seit die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion errang? Etwa die Zweisprachigkeit: Im Westen dominiert das Ukrainische, im Osten das Russische. Oder der Blick auf die Geschichte, in der das Land meist unter der Herrschaft fremder Mächte stand. Im Westen herrschten Polen und Litauer oder die Habsburger-Monarchie. Im Osten hatten die russischen Zaren das Sagen. 

    Die Spaltung fand ihren Tiefpunkt im Zweiten Weltkrieg, als sich westukrainische Nationalisten mit den Deutschen gegen die Sowjets verbündeten – und sogar gegen die eigenen Landsleute im Osten kämpften. Alles überbewertet. Zu diesem Ergebnis muss kommen, wer jüngste Umfragen zur außenpolitischen Orientierung der Ukraine liest. 87 Prozent der Menschen im Land sind für einen Beitritt zur EU. Fast genauso viele wollen in die Nato (86). Im Osten liegen die Zahlen mit 84 und 80 Prozent kaum unter dem Durchschnitt. Das allerdings war keineswegs immer so. Zwar stimmten auch beim Referendum 1991 schon gut 90 Prozent für die Unabhängigkeit der Ukraine. Eine Mehrheit gab es damals auch auf der Krim und im Donbass. Aber zumindest ein Nato-Beitritt kommt in den folgenden drei Jahrzehnten für die meisten Ukrainer nicht infrage: Man will in die EU, aber man möchte auch gute Beziehungen zu Russland pflegen. 

    Anfang 2014 jagen sie Janukowitsch aus dem Amt

    Das ändert sich, als Präsident Viktor Janukowitsch im Herbst 2013 auf Druck Putins ein Abkommen mit der EU platzen lässt. Hunderttausende protestieren in den folgenden Wochen auf dem Kiewer Maidan. Im Februar 2014 jagen sie Janukowitsch aus dem Amt. Kurz darauf annektiert Putin die Krim und startet eine verdeckte Militäroperation im Donbass. Und genau damals beginnt etwas, das im Westen Europas kaum jemand wahrnimmt. Oder wahrhaben will. Weil viele in Wien und Paris, vor allem aber in Berlin, weiter auf eine zunehmend dubiose Partnerschaft mit Putin setzen. Auf die Gaspipeline Nord Stream II zum Beispiel. Das stört die Ukraine natürlich. 

    Doch dort bleibt der Druck von außen nicht ohne Wirkung: Er schweißt die Ukraine zusammen. Mit Petro Poroschenko wird 2014 erstmals ein postsowjetischer Präsident ohne Stichentscheid gewählt. Schon wahr: Es gibt im Donbass Menschen, die sich um der Stabilität willen eine Annexion durch Russland wünschen. Aber einen echten, einen politisch motivierten Separatismus gibt es dort nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Euromaidan eben doch die Willensbekundung einer noch jungen, aber geeinten Nation war: für Demokratie und Westorientierung.

    Das allerdings sagt noch wenig über die Zukunft aus. Was geschieht, wenn der ersehnte Sieg nicht gelingt? Wenn sich die Ukraine doch mit einem Verlust von Territorium abfinden muss. Die Frankfurter Friedens- und Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff ist überzeugt, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj dies „politisch nicht überleben würde“. Und was in einer Nach-Selenskyj-Ära geschieht, scheint völlig ungewiss. Ein solcher Blick auf die Ukraine ignoriert jedoch, dass Selenskyj der sechste gewählte Präsident in drei Jahrzehnten ist. Der Wechsel ist längst ein Teil der Normalität. Anders gesagt: Die Präsidenten in Kiew kommen und gehen – der Freiheitswille bleibt.

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