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Krieg in der Ukraine: Wer das nationalistische Russland verstehen will, muss fernsehen

Krieg in der Ukraine

Wer das nationalistische Russland verstehen will, muss fernsehen

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    In vielen russischen Haushalten läuft das Fernsehen in Dauerschleife – und damit die Propaganda der Regierung.
    In vielen russischen Haushalten läuft das Fernsehen in Dauerschleife – und damit die Propaganda der Regierung. Foto: Sergey Averin, Imago

    Morgens um neun ist die Welt … voller Geschosse. Rechts ragt eine Glattrohrkanone ins Bild, in der Mitte des Bildschirms fliegen Erdhaufen in die Luft, ein Panzer quält sich durch den Wald, von links kommen wieder schlagen mit Nato-Kalibern zu. Unsere Jungs halten dagegen.“

    Es ist Freitagmorgen, Nachrichtenzeit im Ersten Kanal, dem ältesten und beliebtesten Staatssender im russischen Fernsehen. Kaum hat die Moderatorin Aljona Lapschina über „unsere Jungs“ gesprochen, schaltet sie zum Korrespondenten an die Front, der darüber berichtet, wie „tapfer“ diese „Jungs“ bei Swatowe (im Russischen: Swatowo) die „Feinde“ in die Flucht treiben. Er filmt eine Drohne, muss fliehen. „Ich habe es nicht geschafft, ein Interview mit dem Kommandeur aufzunehmen, wir müssen hier weg“, sagt er und wirft sich ins Militärfahrzeug. „Solange der Gegner nicht besiegt ist, wird das so weitergehen“, brüllt er ins Mikrofon. Wackelige Bilder zeigen einen zerstörten Wald. 

    Fernsehen ist Informationsquelle Nummer eins in Russland

    Fernsehen ist Informationsquelle Nummer eins in Russland. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung informieren sich vorwiegend über das TV, wie Untersuchungen des unabhängigen Moskauer Meinungsforschungszentrums Lewada zeigen. In vielen Haushalten läuft der Fernseher ununterbrochen, manchmal in Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer gleichzeitig. „Zombie-Kiste“ nennen Kritiker ihn. Das Fernsehen ist längst ein Propagandainstrument im System Putin

    Egal, wohin die Zuschauerinnen und Zuschauer schalten: Überall wird die offizielle Regierungslinie verbreitet. In den Nachrichten geht es von den Kämpfen im Live-Format weiter zum „Internationalen Justizforum“ in Sankt Petersburg. Maria Lwowa-Belowa, die per Haftbefehl aus Den Haag gesuchte russische Kinderrechtsbeauftragte, spricht wieder einmal von den „angeblichen Deportationen von Kindern aus der Ukraine“. Alexander Bastrykin, der Chef des russischen Ermittlungskomitees, lässt sich über den „Genozid der ukrainischen Faschisten“ aus. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa wettert gegen die „Sanktionsaggression des Westens“, die „die Welt noch nie so gesehen“ habe. „Der Westen zerstört die Menschenrechte“, sagt sie. Beitrag fertig. Der nächste zeigt Migranten, die „die Grenze nach Amerika stürmen und Biden gefährlich werden“. Werbung. Durchatmen.

    Krieg im TV: Der Moderator dankt "unseren Jungs"

    Nach Joghurt, Kaffee, Bankberatung geht es weiter mit Geschossen, „unseren Jungs“, den „blutrünstigen Ukrainern“. Eine halbe Stunde lang will der Moderator der Sendung „Anti-Fake“ die „Lügen aus dem Westen entlarven“. Drei Gäste hat er dazu eingeladen, die wenig anderes zu sagen haben, als dass der Westen „seit 300 Jahren“ versuche, Russland zu „zerstören“. Der Moderator sagt am Ende der Sendung: „Jungs an der Front, vielen, vielen Dank an euch. Danke!“ 

    Bei Rossija 1, dem zweitgrößten Sender des Landes, flimmern derweil ähnliche Bilder über den Bildschirm. „Exklusive Aufnahmen“ über den Beschuss bei Donezk, Migranten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, Lieferung britischer Waffen an die Ukraine. Dann tritt Dr. Alexander Mjasnikow auf den Plan. Ein Kardiologe, der in seiner gleichnamigen Sendung „über das Wichtigste“ zu erzählen weiß – die Gesundheit. Er spricht über die Pflege der Haut, die Pflege der Augen und sagt Sätze wie „Schönheit ersetzt das Hirn“ oder „Über Frauen weiß ich alles“. Dr. Mjasnikow bleibt vor einer Frau in seinem Studio stehen und sagt: „Ihre Augen, ach, Sie haben so schöne Augen. Frauenaugen sind das Beste.“ Das Publikum klatscht. 

    Exklusive Aufnahmen von der Front in der Ukraine

    Dann kommt der Krieg in die Wohnzimmer zurück. Im Ersten Kanal, bei Rossija 1, bei NTW, quer durch die Staatssender – andere Sender gibt es längst nicht mehr im Kabelnetz, im Internet sind unabhängige Medien in Russland gesperrt. Es werden „exklusive Aufnahmen“ von der Front gezeigt, Sätze gesagt wie „Es findet ein brutaler Kampf gegen uns mit Händen von Fremden statt“ oder „Der Westen hat eine eigene Wahrnehmung von allem, die er mit Gewalt allen anderen aufzwingen will“.

    „Selenskyj ist ein toxischer Spieler, ein Versager, der dem Westen immer wieder sagen muss, dass die russische Armee die stärkste der Welt ist. Er enttäuscht den Westen immer wieder und sollte doch lieber beim Eurovision Song Contest auftreten, dieser Show voller europäischer Freaks“, sagt ein Wissenschaftler im Ersten Kanal. Bei NTW wettern die Gäste über die „Idioten Amerikaner“, die „nur zwei Windungen im Hirn“ hätten und „die Russen seit Jahrzehnten entmenschlichen“. NTW bot einst scharfe Satire und Kritik an den Regierenden. Es war der erste Sender, der mit dem Amtsantritt von Wladimir Putin im März 2000 zerschlagen wurde. 

    Später am Abend folgen Unterhaltungssendungen wie das „Glücksrad“ oder „The Voice“. Doch selbst zwischen all den Volksliedern, zwischen Kinderliedern über die „liebste Mama“ und Marmelade „wie bei Oma“ kommen Sprüche wie „Wir haben das Siegesgen“ oder „Solange wir alle zusammenstehen, sind wir nicht zu besiegen“. Leonid Jakubowitsch, der das „Glücksrad“ seit 1991 moderiert, lädt oft Gäste aus den „neuen Territorien“ ein, so nennen die Russen offiziell die von ihnen annektierten Gebiete in der Ost- und der Südukraine. Er überhäuft sie mit Preisen von der Regierungspartei Einiges Russland, deren Mitglied er seit den 2000er Jahren ist, und freut sich sichtlich, dass sie nun „endlich in der Heimat“ seien. Es rauscht und flimmert der Krieg, ob morgens, ob mittags, ob abends, ob nachts. Es knallt und dröhnt und rattert. Stunde um Stunde. Seit mehr als einem Jahr. 

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