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Krieg in der Ukraine: Was würde passieren, wenn Putin eines Tages verschwindet?

Krieg in der Ukraine

Was würde passieren, wenn Putin eines Tages verschwindet?

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    Wladimir Putin, Präsident von Russland, hat mit seinem Angriffskrieg die Weltordnung in Trümmer gelegt.
    Wladimir Putin, Präsident von Russland, hat mit seinem Angriffskrieg die Weltordnung in Trümmer gelegt. Foto: Denis Balibouse, dpa

    Frau Sasse, ein Jahr ist es her, dass der russische Präsident seine Truppen in der Ukraine einmarschieren ließ. Für viele Menschen ist das, was geschieht, deshalb Wladimir Putins Krieg. Ist es das wirklich?
    GWENDOLYN SASSE: Putin ist die Schlüsselfigur. Er hat den Befehl gegeben, er ist als Präsident Oberbefehlshaber. Ohne Putin gäbe es den Krieg in diesen Dimensionen nicht. Trotzdem vermeide ich den Begriff „Putins Krieg“, er beschränkt die Erklärung zu sehr auf eine einzelne Person. Denn hinter diesem Krieg steht ein ganzes politisches System. Das hat Putin zwar stark mitgeprägt, doch es wird eben von den Eliten um ihn herum mitgetragen. Und auch die Gesellschaft ist über viele Jahre so geformt worden, dass sie von unten dieses System und somit auch diese Entscheidung, diesen Krieg zu führen, mitträgt. 

    Gwendolyn Sasse ist Osteuropa-Expertin.
    Gwendolyn Sasse ist Osteuropa-Expertin. Foto: A. Riedl

    Stirbt mit dieser Erkenntnis auch ein Stück weit die Hoffnung, dass sich die Lage bessern würde, wenn Putin erst einmal weg wäre? 
    SASSE: Die ehrliche Antwort ist: Wir wissen nicht, wer und was nach Putin kommt. Aber es ist unwahrscheinlich, dass sich das politische System in Russland schnell ändert. Je nachdem, wie der Krieg weiter verläuft oder wie er eines Tages ausgehen wird, wird es sicher einen Machtkampf innerhalb der politischen Eliten geben. Da sind ganz verschiedene Szenarien denkbar. Aktuell hören wir eher die sehr radikalen Stimmen, die das System in eine noch autoritärere Richtung drehen wollen. Das heißt, auch nach Putin gibt es nicht sofort einen Prozess der Demokratisierung. Das System wird versuchen, sich zu erhalten. 

    Viele Staaten in Osteuropa sind zumindest in Richtung Demokratie gestrebt. Wie erklären Sie sich, dass das in Russland nicht passiert?
    SASSE: Im Westen hat man sich lange Zeit zu viele Illusionen gemacht, dass man einen Demokratisierungsprozess von außen befördern, wenn nicht direkt herbeiführen könnte. Dass das nicht gelungen ist, hat viel mit der Erfahrung der Russen in der frühen 90er Jahren zu tun. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es wirtschaftliche und politische Reformen. Unter Boris Jelzin wurde der Versuch unternommen, das Land zu so etwas wie einer Demokratie zu formen – auch wenn der Präsident hier bereits weitreichende Rechte erhielt bzw. sie sich nahm. Doch Jelzin war nicht nur eine Schlüsselfigur für die politische Öffnung im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der

    Und daran wird sich so schnell nichts ändern?
    SASSE: Natürlich muss das nicht auf ewig so festgelegt sein. Aber ich glaube, dass der Moment, in dem eine Demokratisierung möglich war, so schlecht gelaufen ist, dass ein Neuanfang schwierig werden dürfte. Dazu haben auch die politischen Eliten um Putin beigetragen, die die Lage genutzt haben, um ein immer autoritäreres und repressiveres System aufzubauen. In so einem System hat die Gesellschaft eine ganz bestimmte Funktion: Sie muss unpolitisch sein, sie darf nicht infrage stellen, was an der Spitze geschieht. Interessanterweise gab es in Russland immer wieder Proteste in den vergangenen Jahren. Es ging um Waldbrände, um Müllhalden, um Bauprojekte. Aber es wurde dabei fast nie das System als Ganzes infrage gestellt. Diese Gesellschaft ist über Jahre durch die Politik bewusst geformt worden. 

    Menschen aus aller Welt demonstrieren gegen den Krieg, den Wladimir Putin losgetreten hat.
    Menschen aus aller Welt demonstrieren gegen den Krieg, den Wladimir Putin losgetreten hat. Foto: Miguel Candela, dpa

    Ist dieser Krieg deshalb auch so etwas wie ein Kampf der politischen Systeme: hier die demokratische Ukraine, dort das autoritär regierte Russland?
    SASSE: Ich halte das für die wichtigste Achse in diesem Krieg. Meiner Ansicht nach geht es nicht in erster Linie um die Nato-Osterweiterung. Es geht auch nicht um eine Art Stellvertreterkrieg, der hier geführt wird. Es geht ganz zentral um die Auseinandersetzung zwischen den politischen Systemen: dem autoritären System, das Russland geworden ist, und der demokratisierten und nach Westen blickenden Ukraine. Global gibt es natürlich auch andere Konfliktlinien, da geht es um wirtschaftliche Interessen, auch um imperiale Hinterlassenschaften und fehlendes Vertrauen westlichen Akteuren gegenüber in Afrika oder Lateinamerika. Aber im Kern ist Russlands Krieg gegen die Ukraine ein Konflikt der Systeme.

    Was hat letztendlich den Weg in diesen Krieg geebnet, was war der Auslöser? 
    SASSE: Je mehr sich die Ukraine in eine funktionierende Demokratie entwickelt hat, umso weiter glitt sie aus dem Einflussbereich, den Russland für sich beansprucht. Dieser Prozess hat sich über Jahre immer mehr verstärkt. Aus russischer Sicht schien es jetzt noch ein Zeitfenster zu geben, sich dem entgegenzustellen. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass Russland diesen Krieg schrittweise ausgedehnt und ausgetestet hat, wie weit es gehen kann: erst die Annexion der Krim, dann der Krieg im Donbass und schließlich als dritter Schritt der groß angelegte Angriff auf die gesamte Ukraine. Solche Prozesse haben es Russland erlaubt auszutesten, wie der Westen reagiert. Gleichzeitig konnte Putin seine Wirtschaft anpassen und Reserven anlegen, um auf Sanktionen reagieren zu können. Der Westen hat Signale gesendet und Fehlentscheidungen getroffen: Er hat quasi akzeptiert, dass die Krim nicht wieder an die Ukraine gehen würde. Dazu hat er sich in eine große Abhängigkeit von russischer Energie begeben, etwa mit einem Projekt wie Nord Stream II. 

    Präsident Putin hat in Russland ein großes  Mobilisierungspotenzial.
    Präsident Putin hat in Russland ein großes Mobilisierungspotenzial. Foto: Ivan Vysochinsky, dpa

    Wurde durch den Krieg der Demokratie-Prozess in der Ukraine beschädigt? Präsident Wolodymyr Selenskyj konzentriert einen Großteil der Macht auf sich. 
    SASSE: Bei den Ukrainern und Ukrainerinnen wurde durch den Krieg das Bewusstsein noch einmal geschärft, worum es geht: um die ukrainische Nation, um Hoffnungen und Erwartungen, wie man künftig leben will. Und das ist ein ganz wesentlicher Teil von Demokratie. Der Konsens in der Bevölkerung, dass man in einer gut funktionierenden Demokratie, in der EU leben möchte, ist jetzt noch stärker, als er vorher schon war. Es ist erstaunlich, dass auch das ukrainische Parlament immer noch arbeitet. Allerdings konzentriert sich durch den Krieg natürlich viel Macht beim Präsidenten. Nach dem Krieg wird sich die gesamte politische Landschaft der Ukraine neu formieren müssen. Alte Parteien, die Verbindungen nach Russland hatten, sind zum Teil verboten worden. Politiker wie Petro Poroschenko oder Julia Timoschenko scheinen auf einmal wie aus einer anderen Zeit zu sein. Auch die Frage, wer welche Rolle im Krieg gespielt hat, wird sicher sehr entscheidend sein. Die Gesellschaft ist gerade hochgradig mobilisiert, daraus könnten neue Parteien, aber auch unrealistische Erwartungen entstehen. Das alles sind große Herausforderungen. Die Ukraine wird Wege und Strukturen finden müssen, das Parlament, eine unabhängige Justiz und lokale Entscheidungsprozesse, die zu einer Demokratie gehören, zu stärken. 

    Für die Ukraine geht es also um eine wichtige Richtungsentscheidung. Entspringt diesem Bewusstsein auch diese unglaubliche Widerstandskraft des ukrainischen Volkes? 
    SASSE: Es ist den Menschen völlig klar, worum es hier geht. Es geht um die Existenz ihres Staates und ihrer Nation. Existenzieller geht es ja kaum. Die Ukraine war ohnehin schon eine mobilisierte Gesellschaft, das hat sich auch in den Massenprotesten der Orangenen Revolution oder des Euromaidan gezeigt. Die Menschen haben mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass sie die Regierenden für nicht in der Lage hielten, ihre Erwartungen umzusetzen. Und es ging immer wieder um Rechtsstaatlichkeit, um Lebensstandards, um Korruptionsbekämpfung, um eine Annäherung an die EU. Gerade konzentriert sich die Gesellschaft auf den Erhalt ihres Staates. Aber dahinter steht die Vorstellung, dass man in einem Rechtsstaat leben möchte.

    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, während seines Besuchs in Cherson.  Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
    Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, während seines Besuchs in Cherson. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Foto: Ukrainian Presidential Press Office

    Im Westen werden immer wieder Rufe laut nach Verhandlungen mit Putin. Es scheint fast eine gewisse Angst davor zu geben, dass Putin diesen Krieg verliert …
    SASSE: Gewinnen und verlieren sind schwierige Begriffe in diesem Krieg. Russland hat schon viel verloren, allein wenn man an die Menschenleben denkt, aber auch an die wirtschaftlichen Kosten. Es geht um den Erhalt des politischen Systems in Russland und um Putins politisches Überleben. Man wird versuchen, dem alles entgegenzusetzen, was irgendwie möglich erscheint. Die russische Propaganda wird versuchen, den Krieg als verlustreich, aber notwendig darzustellen. 

    Muss der Westen ihm eine gesichtswahrende Lösung anbieten?
    SASSE: Momentan sehe ich keine Grundlage dafür, es gibt gar keinen Anknüpfungspunkt für Verhandlungen. Im Hintergrund gibt es immer wieder Telefonate und Gespräche, um den Moment nicht zu verpassen, wenn sich etwas verändert in der russischen Kalkulation. Doch leider würde gerade jeder Versuch, den Konflikt einzufrieren, scheitern, Russland würde in absehbarer Zeit einen weiteren Angriffsversuch starten. Wenn aus Russland andere Signale kommen, wird vielleicht auch die Ukraine entscheiden, dass auf einer anderen Grundlage verhandelt werden kann. 

    Zur Person

    Gwendolyn Sasse ist die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien Berlin (ZOiS). Seit April 2021 ist sie Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu

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