Auf Bahnhöfen und in Aufnahmeeinrichtungen in Polen und auch in Berlin haben Freiwillige ganze Kisten mit Stofftieren bereitgestellt – und die Nachfrage ist groß: Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Kinder in Europa auf der Flucht wie seit Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Ein großer Teil der weit über zwei Millionen Kriegsflüchtlinge sind Kinder und Jugendliche. Und nicht wenige sind getrennt von ihren Eltern oder auch als Waisen auf der Flucht. Experten erwarten in den kommenden Wochen dramatisch steigende Zahlen.
„Wir werden nach den aktuellen Einschätzungen in Europa mit drei bis vier Millionen Kindern unter den ukrainischen Kriegsflüchtlingen rechnen müssen“, sagt der Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds Heinz Hilgers unserer Redaktion. „Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass die Zahl der Geflüchteten größer wird als 2015 und dass wir dabei mehr Kinder als je zuvor aufnehmen werden“, erklärt er. „Dies wird eine Herausforderung für unser Bildungssystem, die Schulen und die Kindertagesstätten.“
Kinderschutzbund fordert Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern
Die Politik müsse jetzt schnell reagieren. „Es ist so rasch wie möglich ein Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen nötig, bei dem besonders auch die Situation der sehr großen Zahl der Kinder unter den ukrainischen Kriegsflüchtlingen in den Blick genommen wird“, betont Hilgers. Besonders dränge die Frage, ob die allein ankommenden Kinder aus der Ukraine voll als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge anerkannt werden.
Weil dies ganz entscheidend für die Finanzierung der Betreuung sei, herrsche schon jetzt Unsicherheit bei vielen Kommunen. „Zurzeit sind ganze ukrainische Kinderheime auf der Flucht und kommen in Deutschland an“, berichtet Hilgers.
„Krieg und Flucht prägen ein ganzes Leben auch von Kindern“
Allein Freiburg nahm diese Woche 157 Heimkinder und 30 Betreuerinnen und Betreuer aus Kiew auf, die unter dramatischen Bedingungen drei Tage auf der Flucht waren und dabei sogar unter Beschuss russischer Soldaten gerieten. „Krieg und Flucht prägen ein ganzes Leben auch von Kindern“, betont Hilgers. „Wir haben dafür wahrscheinlich gar nicht genug Therapeuten im Land.“ Auch dies werde eine Herausforderung für Schulen. „Das wird ehrlicherweise auch eine zusätzliche Belastung für alle, die dort arbeiten“, erklärt der Kinderschutzbund-Präsident.
„Deshalb muss die Politik rasch überlegen, wie sie die Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher so gut wie möglich unterstützen kann.“ Wichtig sei, dass sich alle sehr „traumasensibel“ verhalten mit Rücksicht auf das, was die Flüchtlinge durchgemacht haben. Ein falsches Verhalten könne schnell zu einer Re-Traumatisierung der geflohenen Menschen führen. Hilgers empfiehlt Handlungsempfehlungen für Schulen und Betreuungseinrichtungen bis hin zu Kursen.
Menschenhändler ernste Gefahr für ukrainische Kriegsflüchtlinge
Zudem es gebe ganz akute Probleme. „Wir müssen rasch versuchen, die teils chaotischen Zustände an den Grenzen der Ukraine und auch am Berliner Hauptbahnhof in ein geordnetes Verfahren zu überführen, um für mehr Sicherheit für die ankommenden Frauen und Kinder zu sorgen“, fordert Hilger. „Wir müssen besonders aufpassen, dass Frauen und Kinder nicht in die Fänge von Menschenhändlern geraten. Dieses Risiko ist umso größer, wenn ankommende Kriegsflüchtlinge nicht registriert werden.“
Entsprechende Vorfälle in Berlin, wo die Bahnhofspolizei dieser Tage mehreren verdächtigen Männern Platzverweise ausgesprochen hat, seien sehr ernst zu nehmen, betont der Kinderschutzpräsident. „Wir haben in 2015 erlebt, dass viele unbegleitete minderjährige Kinder nach der Flucht spurlos verschwunden sind und man hat andere an verschiedenen Orten der Prostitution angetroffen“, berichtet er. „Es besteht immer die Gefahr, dass, wenn Menschen in Not sind, andere das leider auf die schmutzigste Art ausnutzen wollen.“
Kinderschutzbund: Europa darf Polen nicht allein lassen
Doch auch langfristig müsse die Politik jetzt Weichen stellen. „Wir müssen von Anfang an versuchen, die vielen Frauen und Kinder in unsere Gesellschaft zu integrieren.“ Auch wenn viele den Wunsch hätten, so schnell wie möglich in eine friedliche Ukraine zurückzukehren, müsse man sich darauf einstellen, dass viele Kriegsflüchtlinge möglicherweise für Jahre und möglicherweise für immer hierblieben. „Alles, was wir an Bildung und Integration leisten, wird den Kriegsflüchtlingen auch dann zugutekommen, falls sie in ihre Heimat zurückkehren.“
Zudem sollte Deutschland auch den östlichen EU-Ländern Unterstützung anbieten, wo derzeit die allermeisten Kinder und Frauen aus der Ukraine Schutz suchten. „Europa darf Polen, Ungarn, Rumänien, die Slowakei und Bulgarien mit dieser Herausforderung nicht alleine lassen, sondern muss helfen, wo es möglich ist.“
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.