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Gastbeitrag: Was der Westen aus Putins Angriffskrieg in der Ukraine lernen muss

Gastbeitrag

Was der Westen aus Putins Angriffskrieg in der Ukraine lernen muss

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    Der russische Präsident Wladimir Putin tritt die europäische Friedensordnung mit Füßen.
    Der russische Präsident Wladimir Putin tritt die europäische Friedensordnung mit Füßen. Foto: Miguel Candela, dpa

    Es ist wie immer in der Geschichte. Rasch sagen wir: Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist eine historische Zäsur. Ist sie ja auch: Das erste Mal seit 1945 erleben wir in Europa den Krieg als Überfall eines souveränen Staates. Das erschüttert die internationale Sicherheitsarchitektur weltweit und in dramatischer Weise. In der Charta von Paris, die 1990 den Kalten Krieg beendete, verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, darunter auch die Sowjetunion, auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die europäischen Staaten garantierten sich gegenseitig ihre territoriale Integrität und Souveränität. Putins Krieg kündigt diese Friedensordnung definitiv auf, ja er tritt sie mit Füßen.

    Andererseits lassen sich die langfristigen Entwicklungen nicht leugnen. Wer Augen hatte, konnte sehen: Mit dem Angriff auf die Ukraine treibt Russland eine bereits seit mindestens 15 Jahren bestehende Tendenz auf die Spitze. Seit seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 hat Putin keinen Zweifel daran gelassen, dass er die neue Friedensordnung nicht akzeptieren will, zumindest nicht im Hinblick auf die sowjetischen Nachfolgestaaten. Der Krieg gegen Georgien, die Annexion der Krim, die Unterminierung der Ost-Ukraine, schließlich das Protektorat über Belarus gehen in dieselbe Richtung. Das Ziel ist die territoriale Restauration des Sowjetimperiums und der russischen Weltmachtstellung. Zugleich hat Putin die innenpolitische Opposition und die Meinungsfreiheit systematisch und gewaltsam unterdrückt.

    Auch Putins Art zu regieren ist fragil und künstlich

    Die Rechtfertigung hierfür – die Sorge um die russische Sicherheit angesichts einer angeblichen Bedrohung durch die Nato – ist ein Popanz. Die Behauptung, der Westen habe 1990 versprochen, die Nato werde nicht über das Gebiet der DDR hinaus nach Osten ausgedehnt, entbehrt jeder Grundlage, und zwar nicht nur deswegen, weil damals noch der Warschauer Pakt als osteuropäisches Militärbündnis existierte. Faktisch geht es um etwas anderes: Die Charta von Paris umfasste selbstverständlich auch das Recht der souveränen Staaten auf freie Bündniswahl. Ihre Unterzeichner verzichteten auf machtgestützte „Interessensphären“ wie im Kalten Krieg, innerhalb derer sie schwächere Nachbarstaaten hätten dominieren können.

    Dass Putin dies nicht akzeptieren will und nun danach trachtet, aus der Ukraine einen Vasallenstaat zu machen, verrät auch etwas über langfristige Kontinuitäten. In einem berühmten Dokument, dem „Langen Telegramm“ vom Februar 1946, warnte der amerikanische Gesandte der US-Botschaft in Moskau George F. Kennan vor dem traditionellen und „instinktiven“ russischen Empfinden der Unsicherheit. Diese Unsicherheit betreffe nicht so sehr das russische Volk, das den Nachbarn grundsätzlich freundlich gesinnt sei, sondern die russischen Herrscher. Letztere hätten stets gespürt, dass ihre Art zu regieren fragil und künstlich sei und daher keinen Vergleich mit den politischen Systemen des Westens aushalte.

    Hieraus resultiere das hypertrophe Sicherheitsbedürfnis Russlands, das dann allzu leicht umschlage in ein aggressives Verhalten gegenüber den Nachbarn. So zeitgebunden und auch problematisch Kennans Telegramm mit seiner pauschalisierenden Tendenz auch war, so sehr regt es heute wieder zum Nachdenken an, wenn wir nach den tieferen Ursachen des Konflikts fragen. Offenkundig kann Putins Herrschaft die Nähe der westlichen Demokratie nicht ertragen, weil er in ihr eine tödliche Gefahr für sich selbst erblickt. Daher ist die Ukraine, seit sie sich für den Weg nach Europa und die westlichen Demokratie entschieden hat, in das Fadenkreuz russischer Ängste gerückt. Das ist der eigentliche Grund für die russische Aggression, nicht die Geschichtsklitterung einer Bedrohung durch die Nato.

    Hätte es der Westen besser wissen müssen?

    Hätte nun aber die westliche Politik dies alles nicht voraussehen können, sofern sie historisch besser informiert gewesen wäre und sich weniger vom Wunschdenken hätte leiten lassen? Die billige Antwort auf diese Frage lautet: ja, selbstverständlich. Schon viel zu lange stehen die Zeichen an der Wand, als dass man sie hätte übersehen dürfen. Dazu gehört die globale Tendenz zu einer geradezu brutalen Rückkehr des Nationalismus – eines Nationalismus, der sich zunehmend auch in einem neuen Typus des Alleinherrschers ausdrückt. Dieser Typus subsumiert Eigenschaften, die aus der Geschichte der Diktaturen zwar bekannt sind; zugleich ist er aber doch ein historisch neuer Typus mit seiner demokratischen, wenngleich zunehmend pseudo-demokratischen Legitimation. Von Narendra Modi in Indien über Bolsonaro und Maduro in Lateinamerika; von Erdogan in der Türkei bis Viktor Orban in Ungarn; und natürlich von Lukaschenko in Belarus bis Putin in Russland handelt es sich um ein globales Phänomen. Der Mechanismus dieser Regime, die am Ende in reine Diktaturen münden, ist immer der gleiche: Einer einigermaßen korrekten demokratischen Wahl folgt das Drehen an den Stellschrauben der Justiz, der Meinungsfreiheit und der Oppositions- und Minderheitenrechte. Am Ende des Spektrums der Möglichkeiten steht, wie im Fall Russlands, ein persönlicher Diktator, der die Zügel des Militärs und der Justiz, der Propaganda und Repression allein in den Händen hält.

    Auch Donald Trump stellte als US-Präsident sein Land vor eine innenpolitische Zerreißprobe.
    Auch Donald Trump stellte als US-Präsident sein Land vor eine innenpolitische Zerreißprobe. Foto: Lm Otero, dpa

    Zwar haben die westlichen Regierungen diesem Trend zu lange zugesehen, aber zugleich, und das muss man sofort hinzufügen, waren und sind sie selbst von ihm betroffen. Man denke nur an die existentiellen innenpolitischen Zerreißproben in den USA unter Donald Trump, in Großbritannien in Bezug auf den Brexit oder in Polen im Hinblick auf die drohende Zerstörung des Rechtsstaates. Nicht nur in diesen Ländern, sondern eigentlich überall sind die demokratischen Kräfte des Westens mit dem wachsenden Gewicht von Lügengebäuden wie Fake News, Verschwörungstheorien, „alternativen Fakten“ etc. konfrontiert, die den Konsens seiner Werte im Kern treffen. Die demokratische Politik selbst ist in gewisser Weise aus den Fugen geraten, und überdies sind die meisten Menschen weniger an den großen Fragen der Politik als an den kleinen Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen interessiert. Auch deshalb war eine festere Haltung gegenüber den offenkundig freiheitsgefährdenden Tendenzen weder opportun noch innenpolitisch durchsetzbar. Die Amerikaner wünschten mehrheitlich genauso den Rückzug aus Syrien und Afghanistan wie die Deutschen eine substantielle Erhöhung des Verteidigungsetats ablehnten. Gleichwohl springt die Parallelität zwischen dem Angriff auf den demokratischen Konsens im Innern und dem wachsenden internationalen Gewicht der Diktatoren ins Auge und sie ist keineswegs ein Zufall.

    Eine unsicher werdende Welt verlangt uns Verzicht ab

    Vor diesem Hintergrund gleicht Putins Angriffskrieg einer gewaltsamen Aufforderung an das westliche Bündnis, sich neu zu besinnen und eine realistischere Analyse der politischen Realitäten durchzuführen. Diese Analyse ist unbequem, ja bedrückend. Sie handelt weniger von der Friedensdividende als von neuen Einschränkungen aufgrund einer unsicher gewordenen Welt. Sie ruft mehr zum Verzicht auf, als dass sie von neuem Wohlstand kündet. Schließlich nimmt sie uns alle weitaus mehr in die Verantwortung, als wir gewohnt sind, und zwar in einer Weise, in der das Persönliche auch wieder politisch werden kann. Die Grundlage hierfür ist die Erkenntnis der Wahrheit, deren Kraft sich gegenüber Lüge und Selbsttäuschung erweisen wird. Darin liegt vielleicht die eigentliche historische Zäsur unserer Tage.

    Andreas Wirsching ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte.
    Andreas Wirsching ist Leiter des Instituts für Zeitgeschichte. Foto: Matthias Balk, dpa

    Zum Autor: Andreas Wirsching, 62, ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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