„Ut unum sint.“ So lautet der Satz aus dem Neuen Testament, den man mitdenken muss, wenn Papst Franziskus nach Osten und in die Ukraine blickt. „Sie sollen eins sein“, zitiert der Evangelist Johannes Jesus selbst. Der Satz ist der biblische Grundgedanke der Ökumene. Die gespaltenen Jünger Christi mögen sich im Namen ihres Herrn wieder vereinen. Ein frommer Wunsch angesichts der Wirklichkeit.
Die Orthodoxie umfasst 260 Millionen Gläubige
Die 260 Millionen Gläubige umfassende Orthodoxie, selbst ein uraltes Produkt der Abspaltung von Rom, ist in alle möglichen Einzelteile zersplittert. Alleine in der Ukraine, wo 70 Prozent der Bevölkerung orthodoxen Glaubens sind, gibt es drei große Strömungen. Und viel schlimmer: Russisch-orthodoxe Soldaten töten ukrainisch-orthodoxe Soldaten und andersherum – vom massenhaften Tod der Zivilisten ganz zu schweigen.
Der Papst verurteilt den Krieg, aber nicht Russland
Am Mittwoch sprach Franziskus mit dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill, einem der wichtigsten Vertreter der Orthodoxie und Anhänger Wladimir Putins per Videotelefonat. Die Kirchen müssten sich „zusammenschließen, um dem Frieden zu helfen, um den Leidenden zu helfen, um Wege des Friedens zu suchen, um das Feuer zu stoppen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Franziskus fügte hinzu, früher habe man in den Kirchen „von einem heiligen Krieg oder einem gerechten Krieg“ gesprochen. Heute könne man so nicht mehr reden. „Diejenigen, die die Rechnung für den Krieg bezahlen, sind die Menschen, es sind die russischen Soldaten und es sind die Menschen, die bombardiert werden und sterben.“
Viel mehr kam vom Papst aber nicht. Der Grund: „Ut unum sint“, die Kirchen Christi mögen eins sein. Bloß keinen zusätzlichen Stoff für Konflikt.
Intern ist im Vatikan von der „russischen Aggression“ die Rede, die Vatikanzeitung Osservatore Romano charakterisierte den Krieg vor Tagen auf diese Weise. Und am Sonntag verurteilte Franziskus erneut den Krieg als „gewalttätige Aggression gegen die Ukraine“. Nach dem traditionellen Angelus-Gebet vor Tausenden Gläubigen auf dem Petersplatz in Rom, sagte er: „Es ist ein unsinniges Gemetzel, es gibt keine Rechtfertigung dafür.“ Der Argentinier erwähnte Russland abermals nicht in seiner Ansprache.
Nun gibt es Menschen, die besonders vom Papst eine klare Verurteilung des Angriffskrieges durch Russland gegen die Ukraine erwarten. Wohl vergeblich. Der Grund ist nicht nur das Offenhalten eines diplomatischen Kanals durch Franziskus, der beispielsweise auch das chinesische Regime mit Samthandschuhen anfasst.
Franziskus fürchtet um die Fortschritte in der Ökumene
Die in seinem Pontifikat erreichten Fortschritte in der Ökumene sind der tiefere Grund. Als Franziskus den Putin-Freund Kyrill 2016 auf Kuba erstmals traf, war das eine Sensation und ein großes Entgegenkommen des Nachfolger Petri, der sich für das Treffen auf Kuba in den russischen Einflussbereich begab. „Ich komme dahin, wo du willst“, soll der Papst dem Patriarchen gesagt haben. „Du rufst an und ich komme.“
Franziskus setzt auf den persönlichen Kontakt, er hält wenig davon, auf das Sich-Annähern der Apparate und der Theologen zu warten. Franziskus weiß auch: Der päpstliche Primat ist der Orthodoxie ein Dorn im Auge. Deshalb gibt der Papst den Softie.
Die Begegnung 2016 auf Kuba war ein Meilenstein angesichts des Morgenländischen Schismas samt gegenseitiger Exkommunikation aus dem Jahr 1054. Den Weg für diese Annäherung hatte das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) geebnet, es handelte sich um kirchliche Jahrhundertereignisse. Es gab sogar vage Pläne für einen historischen Moskau-Besuch des Papstes in diesem Sommer.
All diese kleinen, großen Schritte würden mit einem harten Satz gegen Putins Angriffskrieg zu Makulatur. Denn Kyrill und Putin liegen ideologisch voll auf einer Linie.
Vitali Klitschko hat Papst Franziskus nach Kiew eingeladen
Nun hat Franziskus neben der Ökumene jedoch ein weiteres wichtiges Credo. Der Papst aus Argentinien hat die Peripherien zum Zentrum seines Pontifikats auserkoren. Angesichts des Leides der ukrainischen Bevölkerung gibt es dieser Tage eigentlich kein passenderes Ziel für Franziskus als Kiew. Bürgermeister Vitali Klitschko hat ihn eingeladen. Sieht man einmal von Sicherheitsproblemen ab, wäre ein Besuch in der Ukraine eine große Geste. Gleichzeitig wäre das aber auch ein Affront gegen Kyrill. Denn der liegt mit den orthodoxen Kirchen der Ukraine seit der Krim-Krise im Konflikt.
2018 spaltete sich eine eigenständige ukrainisch-orthodoxe Kirche von Moskau ab. Sogar die weiterhin moskautreuen Orthodoxen in der Ukraine kritisierten Kyrill wegen seiner Unterstützung der Invasion. Würde der Papst nun in Kiew landen, wäre der Draht zum Patriarchen und auch die letzte Hoffnung, auf Putin Einfluss zu nehmen, dahin. Das will Franziskus nicht.
Der Papst pflegt stattdessen den Dialog mit einem Mann, für den man im Westen vor allem Kopfschütteln übrig hat. Kyrill bezeichnete die Gegner der russischen Armee in der Ukraine als „Kräfte des Bösen“. Er sieht Russland in einem Kulturkampf gegen Dekadenz, womit er unter anderem den liberalen Umgang mit Homosexuellen meint. So rechtfertigt er den Ukraine-Krieg.
Putin wiederum benutzt die Orthodoxie als Rechtfertigung für seinen Krieg. Die russisch-orthodoxen Christen in der Ukraine müssten, auch mit Waffengewalt, geschützt werden. De facto hat der Krieg die ukrainisch-orthodoxen Christen erst richtig gegen Moskau aufgebracht. Die Spaltung ist groß wie nie. Ut unum sint? Der Satz klingt heute wie blanker Hohn.
Alle Informationen zum Konflikt erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.