Vadym ist ein Berg von einem Mann. Wuchtige Oberarme, Hände wie Schraubstöcke. Unter dem bunten Muskel-Shirt zeichnen sich breite Schultern und eine harte Brust ab. Das alles braucht der 54-Jährige, um vorwärts zu kommen. Besser rückwärts nach unten.
Stufe um Stufe geht es auf grauem Beton dem Erdgeschoss entgegen. Vadym hat sich mit seinem Rollstuhl gedreht. Die Rückseite ragt voraus. Durch die staubigen Scheiben fällt ein milchiges Licht in das Treppenhaus des Wohnblocks aus Sowjetzeiten, hier in der ukrainische Hauptstadt Kiew. Geht es dann weiter die Treppen hinab, wird es immer düsterer.
Dort kämpft sich im trüben Dämmerlicht ein ächzender Koloss Stück für Stück nach unten. Seine Hände umschließen das Eisen des Geländers. Die Arme sind leicht angewinkelt, die Muskeln angespannt. So zieht er sich hinunter. Bei jeder Stufe trägt er sein Körpergewicht.
Der Start für den Treppenhausabstieg ist eine Demonstration für den Besucher. Er findet ab dem dritten Stock statt. „Ich wohne im siebten. 40 Minuten brauche ich von dort, um nach unten zu kommen“, erklärt Vadym. Die 40 Minuten sind nicht als Konditionstraining gedacht. Auch wenn hartes Training Teil seiner Überlebensstrategie ist.
Bis vor anderthalb Jahren war Vadyms Überlebenskampf ein anderer. Als Soldat hat er sein Land im Kampf gegen Russland verteidigt, an der hart umkämpften Bachmut-Front. Auch zweieinhalb Jahre nach Putins Überfall auf Russland ist kein Ende des russischen Angriffskriegs in Sicht. Allein in dieser Woche sind mehr als 900 Bomben auf die Ukraine gefallen, berichtet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag. Seinem Land drohen die Soldaten auszugehen. Manche sind seit zweieinhalb Jahren an der Front. Sie sind kriegsmüde, erschöpft. Andere können nicht mehr kämpfen. Wie das Wall Street Journal unlängst berichtete, haben die ukrainischen Truppen etwa 80.000 tote Soldaten zu beklagen. 400.000 Männer wurden verwundet.
Für Vadym findet der Krieg jetzt nicht mehr an der Front statt, sondern im Treppenhaus. Durch die russischen Angriffe auf die Energie-Infrastruktur kommt es regelmäßig zu Stromausfällen und Stromrationierungen. Dann geht für Stunden oder auch einen ganzen Tag nichts. Auch nicht der Aufzug in Vadyms Wohlblock. „Aber ich kann und will nicht einen ganzen Tag oder mehr in der Wohnung hängen bleiben. Wenn ein dringender Termin ansteht oder ein Arztbesuch, muss ich mich auf den Weg machen“, erklärt er.
In seinem Video macht er anderen Kriegsversehrten Mut, nicht aufzugeben.
Deswegen wuchtet er sich die Treppen nach unten. Ein Zurück gibt es nicht. „Die Treppen nach oben kann ich mich natürlich nicht mit meinem Rollstuhl ziehen“, erklärt er. Vadym hat Glück. Seine Mutter wohnt im gleichen Block ebenerdig. So kann er bei ihr bleiben, bis der Strom zurück ist. „Aber stellen Sie sich vor, ich hätte keine Frau an meiner Seite, keine Mutter, die im Erdgeschoss wohnt. Ich wäre den Stromausfällen ausgeliefert.“
Der Krieg hat Vadym zu einem Menschen mit Behinderung gemacht. Einen Tag vor seinem Geburtstag, am 26. Juni 2023, schlägt eine Grad-Rakete direkt in seiner Stellung an der hart umkämpften Bachmut-Front ein. „Die Druckwelle hat mich durch die Luft gewirbelt“, berichtet der 54-Jährige. Nach der Explosion ist er ohnmächtig. Im Körper sind Knochen gebrochen und seine Wirbelsäule ist angeknackst. Die folgende Evakuierung könnte der Plot für ein Drehbuch sein. Sein Sohn dient als Sanitäter im gleichen Frontabschnitt. Er hört von der Verwundung seines Vaters. „Er hat mich und andere Kameraden abgeholt. Auf dem Weg zum Stabilisierungspunkt traf dann eine Granate der Russen den Krankentransporter“, berichtet er. Nun sind Sohn und Vater schwer verwundet.
Dass Vadym keine äußeren Verletzungen hat, wird ihm zum Verhängnis
Im Stabilisierungspunkt und anschließend im Lazarett kann das medizinische Personal die große Zahl der Verwundeten kaum ausreichend versorgen. „Ich hatte keine äußeren Verletzungen. In all dem Stress mit den vielen Patienten haben die Ärzte die Verletzung meiner Wirbelsäule unterschätzt“, erklärt der 54-Jährige. Das ist verhängnisvoll. Wichtige Zeit verstreicht, die Wirbelsäule wird sogar weiteren Belastungen ausgesetzt.
„Jetzt sitze ich also im Rollstuhl“, sagt der Veteran leise. Dann rollt er Richtung einer nahen Schule. „Dort trainiere ich“, erklärt er. Der Weg dorthin ist nicht unbedingt barrierefrei. Für eine hohe Bordsteinkante braucht er vier Anläufe, um sie zu überwinden. Ein Passant will helfen. „Nein. nein, ich muss das alleine schaffen“, weist er dankend ab.
Vadym dreht YouTube-Videos, die genau solche Herausforderungen zeigen. Er benennt Barrieren für Menschen mit Behinderung. „Das ist ein wichtiges Thema. Immer mehr Menschen in der Ukraine haben Behinderungen. Dafür sorgt der Krieg, der immer mehr körperlich versehrte Frontsoldaten und viele, viele psychisch Erkrankte hervorbringt.“ In seinem Video macht er anderen Kriegsversehrten Mut, nicht aufzugeben. „Nur wer kämpft, schafft es, sein Leben mit einer Behinderung zu meistern“, meint der 54-Jährige. Es brauche einen Ausbau von Reha-Möglichkeiten und vor allem Programme für Traumatisierte, für Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Das ist eine der großen Aufgaben für unsere Ukraine“, sagt er.
Immer weitere Teile seines Körpers werden gelähmt
Dann erreicht Vadym die Übungsgeräte. Bunt gestrichene Klettergerüste stehen da. Aber auch Stangen für Klimmzüge. Genau die braucht er für sein Fitness-Programm. Er kämpft gegen die Folgen einer Polyneuropathie an. Mit aller Kraft, die er hat. „Die schwere Verletzung führte während meines Reha-Aufenthalts zu einer bakteriellen Entzündung, zu einer Autoimmunerkrankung“, führt der 54-Jährige aus. Die Polyneuropathie hat die Folge, dass immer weitere Teile des Körpers gelähmt werden. „Ich spüre, wie sich meine Hand immer tauber anfühlt. Was ich dagegen mache, ist, hart zu trainieren. Ich kämpfe“, sagt er.
Kämpfen, das ist ein Lebensbekenntnis von ihm. Und so zieht er sich jeden Tag von seinem Rollstuhl an der Stange nach oben. Es sind gewaltige Kraftanstrengungen, die die Klimmzüge mit sich bringen. Sein Gesicht erzählt von Schmerz, davon, dass er alles gibt. An der Schule ist der Unterricht zu Ende. Die Kinder und Jugendlichen strömen aus dem Haus. Eltern stehen da, um die Jüngeren abzuholen. Einige Kinder sehen Vadym mit Abstand bei seinen Übungen zu. Andere Eltern blicken zur Seite. „Bei Begegnungen mit Menschen mit Behinderungen verschämt zur Seite sehen. Das ist leider in unserer Gesellschaft noch viel zu oft der Fall“, erklärt Vadym.
Ende März hatte Präsidenten-Ehefrau Olena Selenska bei einem Kongress Zahlen genannt, die nachdenklich stimmen: Für 50 Prozent der ukrainischen Gesellschaft blieben Menschen mit Behinderung unsichtbar. Nur ein Viertel der Befragten habe angegeben, dass diese an öffentlichen Orten für sie sichtbar sind. Offiziell gibt es nur drei Millionen Menschen mit Behinderung, 300.000 sind seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion hinzugekommen. Doch Selenska machte klar: „Soziale Unsichtbarkeit hat immer nur einen Grund: die fehlenden Chancen.“
Vadyms Traum ist es, eines Tages in Schulklassen zu gehen, um Berührungsängste abzubauen. „Kinder und Jugendliche sind offen. Da muss man ansetzen, um Vorurteile und Ängste zu beseitigen. Aber jetzt bin ich psychisch noch nicht so weit“, erklärt er. Räume voller Menschen, das bewirkt Stress in ihm.
Fast jede Nacht träumt Vadym, er habe seine beiden Beine verloren
Da scheint sein anderer Wunsch greifbarer: Wieder mit Hunden zu arbeiten. Vor der Invasion führte Vadym eine kleine Hundeschule, bei der er auch pyhsiotherapheutische Hilfe für Tiere anbot. Dazu züchtete er Kaukasische Schäferhunde. „Das ist eine unglaubliche Rasse. Die Tiere sind aufopferungsbereit und treu. Aber sie lieben die Freiheit. Man muss sie überzeugen, nicht unterordnen. Hat man das geschafft, besitzt man ihre bedingungslose Treue“, erklärt Vadym. Auf seinem Smartphone zeigt er die Hunde, die einst an seiner Seite standen. Mächtige Tiere, stolz und selbstbewusst. Sie passen zu dem 54-Jährigen. Die Hunde fehlen ihm, sein Beruf. Manchmal kommen Nachbarn zu ihm, wenn sie Probleme mit ihren Tieren haben. „Bei der Erziehung oder bei körperlichen Problemen“, erklärt der Veteran. „Wieder mit Hunden fest zu arbeiten, das wäre mein Traum“, erklärt er.
Es wird ein kräftezehrender Weg dorthin. Einer, in der er jeden Tag gegen die fortschreitende Lähmung in seinem Körper ankämpft. Der einzige Traum, der zuverlässig fast jede Nacht kommt, ist ein grausamer: „Ich träume, ich habe beide Beine verloren.“ Seine Handflächen wandern dann über die Bettdecke. Erleichterung. Aber, ob er dann wieder Schlaf findet, ist ungewiss.
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