Im Tunnel unter den Gleisen bricht es aus Iryna heraus. „Warum? Warum das alles?“, fragt sie immer wieder. Tränen laufen über die hageren Wangen. „Welchen Sinn soll das alles haben? Die ganzen Panzer, die Bomben und das Geschieße.“ Sie drückt das Gesicht an die Schulter einer fremden Frau, die nun auch anfängt zu weinen. Sie reibt Iryna mit kräftiger Hand über den Rücken. Olga ist einen Kopf größer und sicher doppelt so schwer. „Da gibt es keinen Sinn“, sagt sie schluchzend. „Nicht ein Körnchen.“ Die Fremdheit der Frauen, die sich nie zuvor gesehen haben, verwandelt sich im Tunnel des Warschauer Ostbahnhofs in spontane Nähe. Dass beide Mitte dreißig sind und besser Russisch als Ukrainisch sprechen, hilft wohl.
Iryna, so erzählt sie etwas später, ist Anfang März aus Mariupol nach Dnipro geflüchtet und hat dort bis zuletzt gewartet. Auf ihren Vater, der in der zerbombten Hafenstadt am Asowschen Meer geblieben war. Die zierliche Frau gab das Warten auch dann nicht auf, als der Kontakt abbrach. Erst jetzt hat sie sich überreden lassen und ist nach Polen ausgereist, wo die Familie ihres Bruders lebt. „Natürlich hoffe ich weiter“, sagt sie und wiederholt: „Natürlich.“ Sie hat aber eingesehen, dass es ihrem Vater nicht hilft, wenn sie in Dnipro auf ihn wartet. „Richtig so“, sagt Olga. Sie ist ebenfalls auf dem Weg zu Verwandten in Polen. Allerdings ist Olga direkt geflüchtet, aus Charkiw im Nordosten, das unter russischem Dauerbeschuss liegt. Auch sie hat spät der Vernunft nachgegeben.
Polen zeigte von Beginn an eine enorme Hilfsbereitschaft
Ein Mann tritt hinzu. „Volunteer“, steht auf seiner grellgelben Weste, die ihn als Helfer ausweist. Noch immer sind Freiwillige am Ostbahnhof im Einsatz. Aber es sind weniger geworden. Vor Ostern kamen hier täglich knapp tausend Menschen aus der Ukraine an, mit Zügen, Sonderbussen oder Privatautos. Eine erste Unterkunft fanden sie im Hilfszentrum auf der Rückseite des Bahnhofs. Mit norwegischer Unterstützung entstand dort ein 6000 Quadratmeter großes Zeltlager, hochprofessionell eingerichtet mit sanitären Anlagen, Kinderspielecken, Krankenstation und Registratur. Dorthin begleitet der Freiwillige nun auch Iryna und Olga, diese beiden Nachzüglerinnen, deren kurzer Zusammenbruch im Tunnel umso bedrückender wirkt, weil sie erst jetzt kommen.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist längst in eine neue Phase eingetreten. Die Offensive auf Kiew ist gescheitert. Umso heftiger toben die Kämpfe im Osten und Süden. Vorbei ist nichts. Und dennoch. Die meisten Menschen im Land haben in elf Wochen die Zeit gefunden, sich im Krieg „einzurichten“. Sich zu organisieren. Und das gilt auch für die Nachbarstaaten, besonders für Polen. Das größte östliche EU-Mitglied mit seiner 530 Kilometer langen Grenze zur Ukraine zeigt von Kriegsbeginn an enorme Hilfsbereitschaft. Politisch, militärisch, wirtschaftlich. Vor allem aber humanitär. Von den geschätzt 5,3 Millionen Geflüchteten aus der Ukraine sind rund 3,2 Millionen zunächst in Polen eingereist. Mehr als zwei Millionen blieben im Land, vorwiegend Frauen und Kinder.
Nun will Warschau mehr Hilfe aus Brüssel
Premier Mateusz Morawiecki lobt die „gigantische nationale Kraftanstrengung“. Alle hätten mitgezogen: Kommunen, NGOs, die Kirche, Unternehmen und ungezählte Privatleute, die „ihre Türen und Herzen öffneten“. Die Regierung hat das Ihre getan. Per Eilgesetzgebung regelte sie den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Schule und Studium, Kindergeld und Sozialhilfe. Die Posener Migrationsexpertin Klaudia Golebiowska ist dennoch überzeugt, dass Polen „mit dieser hohen Zahl an Geflüchteten auf Dauer allein nicht zurechtkommt“. Dazu fehle die Erfahrung. Zumal die rechtskonservative Regierung in Warschau eigentlich zu den schärfsten „Migrationsskeptikern“ in der EU zählt. In der Flüchtlingskrise von 2015/16 lehnte sie Quoten ab. Nun jedoch beruft sich ausgerechnet Morawiecki auf die Regelungen von damals und fordert finanzielle Unterstützung von der EU, die „bislang keinen Cent gezahlt hat“.
Vorbild soll das Abkommen mit der Türkei sein, die seit Jahren für die Aufnahme von Geflüchteten viel Geld von der EU erhält. Ein Problem ist jedoch der Streit zwischen Brüssel und Warschau über die mangelnde Rechtsstaatlichkeit in Polen. Die Kommission blockiert deshalb Milliardenzahlungen aus dem Corona-Fonds. Mit frischem Geld für die humanitäre Hilfe würde sie indirekt ihren eigenen Sanktionsdruck mindern. In dieser Lage setzen beide Seiten gemeinsam auf Geberkonferenzen. Jüngst trafen sich in Warschau zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen Vertreter von EU-Kommission, Regierungen, internationale Finanzinstitutionen und Unternehmen, um Geld für die Ukraine zu mobilisieren.
Die boomende Wirtschaft könnte die Arbeitskräfte gut gebrauchen
Am Ende dürften aber andere Dinge den Ausschlag geben, ob die humanitäre Kraftanstrengung ein Erfolg wird. Enorm wichtig ist dabei die Wirtschaft. Bereits vor dem Krieg arbeiteten rund zwei Millionen Menschen aus der Ukraine in Polen. Meist waren das Männer, die auf dem Bau schufteten oder in der Industrie. Nun sind viele Frauen hinzugekommen, die das notorisch unterbesetzte Gesundheitssystem stärken könnten. Gelingt die Integration, dürfte die dauerboomende Wirtschaft profitieren. Entscheidend aber bleibt der Kriegsverlauf. Auch das zeigt sich am Warschauer Ostbahnhof. Im Tunnel unter den Gleisen drängen sich in diesen ersten Maitagen immer wieder Menschen, die Ukrainisch oder Russisch sprechen, vor den Abfahrtsplänen. Gesucht wird die beste Verbindung in die Heimat. Die Zahl der Rückkehrer, so schätzen Fachleute, könnte schon bald die Menge der Flüchtlinge übersteigen.