1 Krieg ist für Deutschland unberechenbar: Es waren Stunden, die vielen Beobachtern den Atem stocken ließen. Die Macht des russischen Präsidenten Wladimir Putin hing für einen Moment am seidenen Faden. Erst 200 Kilometer vor Moskau machte sein früherer Vertrauter und nun Widersacher, Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin, kehrt. Nach 24 Stunden war der Aufstand der Gruppe Wagner abgesagt, wirkte fast wie eine Posse – zumindest auf den ersten Blick. Die Bundesregierung habe "mit hoher Konzentration die Situation beobachtet", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag in Berlin mit betonter Zurückhaltung.
Welche Folgen die Ereignisse haben werden, werde sich erst in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten zeigen. "Ich fürchte, die Lektion für den Westen ist einmal wieder: Wir haben wenig Einfluss auf das, was in Russland geschieht", sagt der Historiker und Osteuropa-Experte Jan C. Behrends. "Der Westen stand am Wochenende nur staunend da." Das gilt wohl vor allem für die deutschen Geheimdienste. Während US-Geheimdienste offenbar schon Mitte Juni Erkenntnisse darüber hatten, dass die Wagner-Söldner einen Plan gegen Putin ausheckten – zumindest berichtet das die New York Times –, schien in Berlin kaum jemand etwas von den Vorgängen im Osten bemerkt zu haben. Wie der Spiegel unter Berufung auf geheime Quellen schreibt, sei das Frühwarnsystem des BND quasi ausgefallen, der Auslandsnachrichtendienst habe der Regierung nur Informationen geben können, die ohnehin in den Medien verfügbar gewesen seien. Es ist eine Art Déjà-vu: Auch den Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 hatte der BND, anders als die Amerikaner, nicht kommen sehen. BND-Chef Bruno Kahl hatte sich an dem Tag sogar noch in Kiew aufgehalten.
2 Putins Macht ist beschädigt: Es war eine der großen Hoffnungen der westlichen Verbündeten und der osteuropäischen Staaten: dass der Krieg das System Putin auf Dauer schwächen wird. Mit Sanktionen sollte der Rückhalt der Bevölkerung gebrochen werden – bislang ist das nicht eingetreten. Nun scheint es einen Vorgeschmack auf ein anderes Szenario gegeben zu haben – ausgelöst ausgerechnet von Akteuren, die der Kreml selbst geschaffen hat. Es ist ein Einschnitt, dass sich der 70-Jährige nach 23 Jahren an der Macht regelrecht vorführen lassen musste. "Prigoschin hat innerhalb von 24 Stunden zwei große russische Garnisonsstädte erobert", sagt Historiker Jan C. Behrends. "Und niemand hat sich ihm entgegengestellt und seine Loyalität zu Putin gezeigt." Und das, obwohl in beiden Orten zahlreiche russische Soldaten stationiert seien.
In Rostow am Don befindet sich sogar das Militärhauptquartier für die Region Süd - eine Kommandozentrale für den Krieg gegen die Ukraine. Trotzdem konnten die Söldner nahezu unbehelligt einmarschieren. "Putins Macht lebt auch von seinem Image als starker Mann, als jemand, der alles unter Kontrolle hat, der durchregieren kann", sagt Behrends. Dieses Bild hat am Wochenende Risse bekommen. Das schien auch Putin selbst gespürt zu haben. "In seiner Fernsehansprache ging er erstaunlich weit und gestand ein, dass von dieser Meuterei ein großes Risiko für Russland ausgehe. Sogar der Vergleich mit 1917 wurde gezogen", sagt Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien.
1917 markiert einen Wendepunkt in der russischen Geschichte, die politischen Turbulenzen führten damals zum Sturz der Zarenherrschaft. Das Datum ist tief im russischen Gedächtnis verankert. Putin weiß das: "Er appellierte an die Einheit Russlands und gestand somit für alle sichtbar Schwächen im System ein", sagt Sasse. Sie vermutet: "Putin wird den Eliten noch weniger vertrauen als zuvor, den Zirkel der Entscheidungsträger noch enger ziehen und Repressionen in den eigenen Reihen verstärken. Noch zeichnet sich keine politische Alternative ab, aber das, was letztendlich auf dem Spiel steht, ist für Putin, die Eliten und die Gesellschaft greifbarer geworden."
3 Der Krieg in der Ukraine flaut nicht ab: Für die Ukraine ist der Angriff auf Putins Macht eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich. Chaos im Kreml bedeutet auch, dass sich Russland weniger auf die Kämpfe an den Fronten konzentrieren kann, alles, was Putin schwächt, wird in Kiew mit Genugtuung beobachtet. Die Armee von Wolodymyr Selenskyj setzt ihre Gegenoffensive fort und kann dort nach schweren Wochen Erfolge verzeichnen. Die Gefechte sollen derzeit besonders intensiv sein. "Die Ereignisse der vergangenen Tage dürften die Moral der ukrainischen Truppen gehoben und die der russischen deutlich gesenkt haben", glaubt Joachim Krause, Chef des Instituts für Sicherheitspolitik in Kiel. Die Motivation seiner Soldatinnen und Soldaten ist für Selenskyj einer der wichtigsten Faktoren in diesem Krieg. Doch dass Putin die Schmach, die ihm zugefügt wurde, einfach hinnehmen wird, ist unwahrscheinlich.
Im Gegenteil: Es ist nicht ausgeschlossen, dass er im Krieg gegen das Nachbarland mit noch größerer Härte vorgehen wird, um ein Zeichen der Stärke zu setzen. "Ich fürchte, dass sich an der Annahme, dass Putin diesen Krieg nicht verlieren darf, weil er dann die Macht – und womöglich auch sein Leben – verliert, nichts geändert hat", sagt Osteuropa-Experte Behrends. Das könnten auch andere Staaten als die Ukraine zu spüren bekommen. Am Wochenende kam es zu russischen Luftangriffen in Syrien, 13 Menschen wurden getötet, darunter auch Kinder. "Allerdings sind auch Putins Ressourcen beschränkt", sagt Behrends. "Er hat sich nicht getraut, diese Meuterei Prigoschins niederzuschlagen. Warum, das wissen wir nicht. Aber eine Erklärung wäre, dass er eine gewisse Einsicht hat in die Begrenztheit seiner Mittel – und in die Begrenztheit der Loyalität seiner Anhänger." Das Schlimmste für einen Autokraten sei es, wenn man einen Befehl gebe, der dann nicht befolgt wird. "Dann sehen alle, dass der Kaiser nackt ist", sagt er.
4 Putin reagiert auf Druck: Stimmen, die vor einer Eskalation des Krieges durch die Waffenlieferungen des Westens warnen, gibt es schon seit Beginn der Kämpfe. Folgt man dieser Logik, hätte die Provokation durch den Wagner-Anführer zu einer heftigen Gegenreaktion des Kreml führen müssen. Die blieb aus. Das registriert man auch in Berlin. "Am plötzlich geschlossenen Deal mit Prigoschin und der Schmach, die Putin in Kauf nahm, sieht man, Putin verhandelt dann, wenn er selbst in seiner Existenz und Macht bedroht ist", sagt Roderich Kiesewetter, Oberst a.D. und CDU-Verteidigungsexperte. "Die Unterstützer der Ukraine sollten deshalb als Quintessenz des Wochenendes ziehen, endlich mit voller Stärke und vor allem mit Konsequenz gegenüber dem Terrorstaat Russland zu reagieren."
Das war nach Ansicht Kiesewetters in der Vergangenheit nicht immer der Fall – trotz der öffentlichen Zusicherungen. "Bei der Sprengung des Kachowka-Staudamms, einem massiven Kriegsverbrechen, gab es außer Beileidsbekundungen keinerlei Reaktion", kritisiert er. "Hier wurde gerade nicht mit Stärke und Konsequenz reagiert." Gerade mit Blick auf die Verminung des Kühlbeckens des Atomkraftwerks Saporischschja sei es jetzt Zeit, mit Stärke und Konsequenz zu reagieren. "Dazu sollte beim Nato-Gipfel in Vilnius der Ukraine eine klare Perspektive zur Nato-Mitgliedschaft aufgezeigt werden."
5 Die russische Bevölkerung träumt nicht vom Frieden: Es sind Bilder, die Präsident Putin noch lange im Gedächtnis bleiben werden. Er, der große Anführer, musste erleben, wie sein Volk dem Chef einer Söldner-Armee zujubelt. Reguläre Polizeieinheiten wurden ausgebuht. Doch als Zeichen, dass die Russinnen und Russen sich nach Frieden sehnen, sollte das nicht gedeutet werden. Es ist Prigoschin, der Putin seit Monaten zu einem härteren Vorgehen im Krieg mit dem Nachbarn drängt. Es ist Prigoschin, der zehntausende Männer in den sicheren Tod schickte, sie an den Fronten geradezu verheizte. "Da, was wir hier gesehen haben, war ein Konflikt innerhalb verschiedener militärischer, terroristischer Gruppen gegeneinander", gibt Kiesewetter zu bedenken. "Große Regungen innerhalb der Zivilgesellschaft haben wir nicht gesehen. Putin kann sich hier weiter auf sein Terror- und Gewaltregime gegenüber der Bevölkerung stützen." Deshalb müsse der Fokus auf der kontinuierlichen Unterstützung der Ukraine liegen. "Die regelbasierten Staaten dürfen keine Angst vor einer Niederlage Russlands haben", sagt Kiesewetter. "Vielmehr ist es nötig, dass Russland verlieren lernt, wenn wir einen nachhaltigen Frieden wollen." Dazu müsse auch in der russischen Bevölkerung das imperialistische und koloniale Denken aufhören und das Existenzrecht sowie die Souveränität früherer Sowjetrepubliken in russischer Nachbarschaft bedingungslos anerkannt werden.
6 Russland braucht die Wagner-Gruppe: Eine wichtige Frage ist, was aus Prigoschins Männern wird. In der Ukraine waren die Einheiten dort, wo es besonders heftig zur Sache ging. Monatelang rangen sie etwa um die schwer umkämpfte ostukrainische Stadt Bachmut. Eine Möglichkeit - die Putin auch schon nutzt -, ist, sie in die offizielle russische Armee zu locken – als Söldner kämpfen sie für jeden, der ihnen ein Gehalt überweist. Tatsächlich wäre es schwierig für Russland, auf die Dienste der gewaltbereiten Soldaten zu verzichten. Zu vielfältig sind die Einsatzgebiete, in denen Putin schnelle und mitunter "schmutzige" Hilfe braucht. Sie richten Deserteure in Syrien hin und legen Landminen in Libyen. In rund 30 Ländern waren die Wagner-Leute im Einsatz, Tausende Söldner dienen in der Truppe.
Zwar sind die Männer ohne staatliches Hoheitsabzeichen unterwegs, offiziell gibt es keine Verbindung nach Moskau. Doch es gibt Hinweise darauf, dass sie vom russischen Militärnachrichtendienst ausgestattet werden. Die Rückkehr von Wagner-Truppen in ihre Ausbildungslager mit militärischer Ausrüstung deute darauf hin, dass der Kreml zumindest Teile der Gruppe eher aufrechterhalten wolle, als sie aufzulösen, erklärt das "Institute for the Study of War" (ISW). Die Zukunft der Kommando- und Organisationsstruktur sei jedoch unklar. Genauso wie die Zukunft von Prigoschin. In seinem Telegram-Kanal veröffentlichte er am Montag eine elfminütige Videobotschaft, in der er den Versuch eines Putsches bestritt. Wo er sich gerade aufhält, ist nicht bekannt.
7 Der Westen muss dauerhaft in seine Verteidigung investieren: Es mag ein zeitlicher Zufall gewesen sein, womöglich haben die Ereignisse in Moskau die Entscheidung aber auch beschleunigt. Deutschland wird 4000 Soldaten dauerhaft nach Litauen schicken, um dort die Ostflanke zu sichern. „Wir als Bundesrepublik Deutschland bekennen uns ausdrücklich zu unserer Verantwortung und zu unserer Verpflichtung, als Nato-Mitgliedsland, als größte Volkswirtschaft in Europa für den Schutz der Ostflanke einzutreten“, sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius.
In den kommenden Jahren – und vermutlich sogar Jahrzehnten – wird es sich die Bundesregierung kaum mehr leisten können, ihre Verteidigungsausgaben zurückzufahren. Die Bundesregierung hat der Ukraine Hilfen im Gesamtwert von rund 16,8 Milliarden Euro (Stand: 24. April 2023) zur Verfügung gestellt - als humanitäre Unterstützung, direkte Zahlungen oder in Form von Waffen. Dabei sind Unterstützungsleistungen, die Deutschland der Ukraine über EU-Programme gibt, nicht eingerechnet. Vom Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung zu stecken, ist die Bundesrepublik allerdings Stand jetzt mit 1,4 Prozent weiterhin weit entfernt. Die Kosten werden in Zukunft also eher höher als niedriger werden.