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Krieg in der Ukraine: Sie tanzen in Odessa gegen den Schrecken des Krieges an

Krieg in der Ukraine

Sie tanzen in Odessa gegen den Schrecken des Krieges an

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    Elena und ihr Mann Oleksii in seiner Tanzschule. „Ich kann gar nicht in Worten beschreiben, wie mir der Tanz in dieser Zeit hilft", sagt sie.
    Elena und ihr Mann Oleksii in seiner Tanzschule. „Ich kann gar nicht in Worten beschreiben, wie mir der Tanz in dieser Zeit hilft", sagt sie. Foto: Till Mayer

    Auf einmal geht’s los. Jemand stellt eine Lautsprecherbox auf den Asphalt, dann erklingt auch schon der ESC-Sieger-Song „Stefania“ der ukrainischen Band Kalush Orchestra, und vor der Oper beginnen Mädchen in gelb-blauen T-Shirts zu tanzen. Zwei Tanzgruppen haben sich zusammengetan. Die schnellen Schrittfolgen lassen die Haare der Mädchen wehen. An den beiden Zufahrtsstraßen zur Oper wartet geduldig ein halbes Dutzend Autofahrer, bis der Tanz vorbei ist. Einer kurbelt an seinem betagten Mercedes das Fenster herunter, sein Daumen zeigt nach oben.

    Nach zwei Durchläufen ist Schluss. Die Mädchen schnaufen erschöpft, es ist ein heißer Samstagvormittag in Odessa. Die Sonne brennt, und nun wollen auch die Autofahrer wieder weiter. „Wir haben für unsere Soldaten an der Front getanzt. Wir alle hoffen, dass sie sich darüber freuen“, sagt eine Zwölfjährige und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. Hinter ihr umarmen sich beste Freundinnen. Danach gehen die Jüngsten mit ihren sichtlich stolzen Müttern und Vätern nach Hause zum Mittagessen.

    Leidenschaftlicher Tango inmitten einer seit dem Beginn der russischen Invasion lebensgefährlichen Umgebung

    „Schön ist so etwas. Das gibt Mut. Nicht nur den Soldaten. Vor allem den Kindern“, meint Elena, als sie von dem Flashmob hört. Mildes Licht fällt durch die hohen, folienverklebten Fenster aufs Parkett des Saals. Dessen Decke glänzt metallisch und erinnert an alte Science-Fiction-Filme. Die 36-Jährige und ihr Mann Oleksii blicken jetzt in den lang gezogenen Spiegel an der Wand, bevor sie zu einer Tanzfigur ansetzen. Ein wenig außerhalb des Stadtzentrums mit seinen Boulevards, die die einstige Herrlichkeit der Hafenstadt bezeugen, liegt die Tanzschule.

    Während Odessas Altstadt selbst in diesen Kriegszeiten Eleganz ausstrahlt, erzählt das Hochhaus mit dem Tanzsaal eine andere Geschichte – die von den Sowjetzeiten der 1960er Jahre. Die umliegenden Wohnblocks vervollständigen das Bild von einer Gesellschaft, die Überfluss kaum kannte. Mit dem Tanz jedoch hielt die Lebensfreude Einzug – leidenschaftlicher Tango inmitten einer tristen und seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Invasion, zunehmend bedrohlichen, lebensgefährlichen Welt.

    Das Tango- und Ehepaar Elena und Oleksii. 30 Kinder und Jugendliche habe er vor Ausbruch des Krieges unterrichtet, sagt er. Inzwischen seien es nur noch sechs.
    Das Tango- und Ehepaar Elena und Oleksii. 30 Kinder und Jugendliche habe er vor Ausbruch des Krieges unterrichtet, sagt er. Inzwischen seien es nur noch sechs. Foto: Till Mayer

    Elena und Oleksii bewegen sich in völliger Harmonie, federleicht. „Ich kann gar nicht in Worten beschreiben, wie mir der Tanz in dieser Zeit hilft. Er lässt all das Unschöne vergessen, all das Hässliche, das dieser Krieg gebracht hat. Gemeinsam können wir abtauchen“, sagt die 36-Jährige anschließend. Es ist eine Auszeit vom Kriegsalltag. Elena greift zu ihrer Wasserflasche und nimmt einen tiefen Schluck. „Das hat gutgetan“, sagt sie leise.

    Vor der Invasion lief es gut für sie und ihren Mann. Elena verdiente als Dolmetscherin und Mitarbeiterin einer österreichischen Firma ganz ordentlich. Die Tanzschule von Oleksii war ein Erfolg. Er hat sich auf Unterricht für Kinder und Jugendliche spezialisiert. Die Kurse waren voll belegt, bei Wettbewerben holten sie Pokale und Auszeichnungen. „30 Kinder und Jugendliche habe ich vor dem 24. Februar unterrichtet“, sagt Oleksii. Mit dem Krieg kam die Flucht aus der Stadt. Sie ließ die Anzahl der jungen Tänzerinnen und Tänzer deutlich sinken. Inzwischen unterrichtet Oleksii sechs Kinder, ein Mädchen kam neu hinzu. „Ein Teenager aus Mariupol. Mein Gott, das Mädchen hat so viel verloren. Aber dass sie jetzt tanzen kann, das stärkt sie“, erklärt Elena. Ihr Mann gibt der Jugendlichen kostenlos Stunden.

    "Was wird werden? Geht es weiter? Geht es hier für uns weiter? Verlieren wir unser schönes Leben in Odessa?“, fragte sich Elena

    Leisten können er und Elena sich das eigentlich nicht. Auch ihre Einnahmen durch das Dolmetschen sind aufgrund des Krieges geschrumpft. Im April wollte das Paar in eine kleine Eigentumswohnung umziehen. Jahrelang hatten die beiden darauf gespart. Nun zieht sich die Fertigstellung. „Die Handwerker fehlen. Natürlich ist es finanziell eine Herausforderung für uns. Wir müssen weiterhin die Miete zahlen. Wir haben höhere Ausgaben, weniger Einnahmen, und dazu kommt die Inflation. Aber wenn ich an das Mädchen aus Mariupol denke, schäme ich mich, zu jammern“, sagt Elena.

    Irgendwie kommen sie also durch. Die Eigentümerin der Mietwohnung, in der sie wohnen, gewährt einen Nachlass, auch bei der Miete für die Tanzschule erfuhr Oleksii Kulanz. „In diesen schweren Zeiten stehen die Menschen schon zusammen“, sagt Elena. „Aber es ist nichts mehr planbar. Am Anfang hat mir das Angst gemacht. Was wird werden? Geht es weiter? Geht es hier für uns weiter? Verlieren wir unser schönes Leben in Odessa?“, erzählt sie. „Jetzt habe ich gelernt, mit der Ungewissheit zu leben. Man darf das Schöne im Leben nicht aus den Augen lassen, das ist wichtig, um stark zu bleiben.“

    Auch wenn Odessa bisher weitgehend von schwerer Zerstörung verschont geblieben ist, Elena erinnert sich mit Grauen an Ende Februar und Anfang März zurück. „Es war ein Wahnsinn. Plötzlich ist die Invasion da. Raketen werden abgeschossen.“

    Das Haus über dem Bunker, in den sie sich retteten, ist ein wuchtiger Block. Selbst im Sommer ist es noch muffig und kalt in den Räumen

    Auf dem Heimweg von der Tanzschule führt sie einen zu dem Luftschutzbunker, in dem sie und ihr Mann damals Unterschlupf fanden. „Es war ein Albtraum. Im Internet haben wir nach Schutzräumen gesucht. Aber manche der angezeigten waren gar nicht in Funktion. Schließlich landeten wir in einem, in dem uralte Schilder der kommunistischen Partei hingen. Dieser hier“, sagt Elena und öffnet eine massive Kellertür.

    Das Haus über dem Bunker ist ein wuchtiger Block aus Stalins Zeiten. Selbst im Sommer ist es noch muffig und kalt in den Räumen. Im Februar und März muss der Bunker ein feuchtes Loch gewesen sein. „Hier lag unsere Matratze. Wir waren die Ersten, schnell kamen mehr und mehr Menschen. Und ein weißer Hund, der es bei uns offensichtlich auf der Matratze recht gemütlich fand“, erzählt Elena. „Eine Zeit lang waren wir dann bei den Schwiegereltern, etwas außerhalb. Da habe ich einen Raketeneinschlag mit eigenen Augen gesehen. Ein riesiger Feuerball, alles hat gezittert.“

    Es sind Erlebnisse, die viele Menschen in Odessa und der Ukraine teilen, Erlebnisse, die sie nicht loslassen und die sie ängstigen.

    Elena und Oleksii im Luftschutzbunker. Dort erzählt die 36-Jährige: „Wir waren die Ersten, schnell kamen mehr und mehr Menschen. Und ein weißer Hund, der es bei uns offensichtlich auf der Matratze recht gemütlich fand.“
    Elena und Oleksii im Luftschutzbunker. Dort erzählt die 36-Jährige: „Wir waren die Ersten, schnell kamen mehr und mehr Menschen. Und ein weißer Hund, der es bei uns offensichtlich auf der Matratze recht gemütlich fand.“ Foto: Till Mayer

    Die Erinnerung arbeitet auch in der 36-Jährigen, das sieht man ihr an. Sie blickt die kahlen Bunkerwände entlang zu einem Gang, der zum nächsten Raum führt. „All das kann schnell wieder kommen. In der Region von Odessa gab es viele Tote und Zerstörung. Jederzeit kann eine Rakete einschlagen. Hier und jetzt“, sagt sie. Und sie redet weiter, immer ernster, entschlossener, trotzig fast. „Putin will unsere Stadt. Er terrorisiert uns. Aber er wird sie nicht bekommen. Hier ist die Freiheit in jeder Straße zu Hause. Ich spüre und liebe sie. Odessa ist Offenheit, Humor und Licht. Einen Diktator wie Putin, den will hier keiner“, sagt sie mit fester Stimme. „Nur weil viele in Odessa Russisch als Muttersprache sprechen, heißt das nicht, dass sie nicht Ukrainisch fühlen.“

    „Putin will unsere Stadt. Er terrorisiert uns. Aber er wird sie nicht bekommen", sagt Elena

    So redet sie und redet und erklärt: „Vor der Invasion war ich nicht allzu patriotisch. Neulich habe ich im Radio die Nationalhymne gehört und musste weinen. Der Krieg lehrt uns, vieles neu zu beurteilen.“

    Elena will noch die Schönheiten Odessas zeigen, das ist ihr wichtig. „Leider ist durch den Krieg nicht alles erreichbar, weil die Stadt sich auf die Verteidigung vorbereitet hat“, sagt sie entschuldigend. So wird es nichts mit dem Ausflug zur Potemkinschen Treppe, die mit 192 Stufen die auf einem Plateau liegende Innenstadt mit dem Hafen verbindet. Film-Ikone Sergei Eisenstein drehte hier 1925 den „Panzerkreuzer Potemkin“. „Ich denke, seitdem ist sie für Cineasten die wahrscheinlich berühmteste Treppe der Welt“, sagt Elena, mittlerweile an einem Checkpoint angekommen. Betonplatten, Panzersperren und zwei gelangweilte Soldaten riegeln den Weg zur Touristen-Attraktion ab.

    „Normalerweise wäre alles voll von Touristen. Jetzt sind wir Einheimischen weitgehend unter uns in der Stadt“, sagt Elena. An der Oper, vor der die Mädchen tanzten, vorbei geht es zu einem Park. Ein Wasserspiel plätschert, Frischverliebte machen Selfies. Flanierende junge Frauen in luftigen Sommerkleidern. Elena sucht ein Café und findet einen Platz unter schattigen Bäumen. Ein Stück Normalität.

    „Nur mit dem Strandleben ist es nichts“, sagt sie. „Die meisten Strände sind gesperrt, aber die eine oder andere Stelle zum Baden soll es noch geben.“ An den meisten Stränden allerdings warnen rote Schilder mit aufgedrucktem weißem Totenkopf vor Minen. Soldaten achten darauf, dass niemand die Absperrungen übertritt. „Wenn es das größte Opfer wäre, nicht schwimmen gehen zu können, wären wir alle froh“, sagt Elena.

    „Was wünscht ihr euch?“, ruft der Sänger einer Band am Stadtpark. Die Antwort ist klar: "Stefanie" von den ukrainischen ESC-Gewinnern Kalush Orchestra

    So wird es Abend an diesem Tag in Odessa. Elena zeigt jetzt nahe dem Stadtpark Gorodskoy Sad eine historische Einkaufspassage aus dem beginnenden 20. Jahrhundert mit schicken Einkaufsboutiquen. „Wunderschön, nicht?“, fragt sie, als sie die verzierten Wände nach oben zum Glasdach schaut. Die Schaufensterauslagen künden von sinkenden Preisen. „Vermutlich brauchen sie nach den harten Monaten seit der Invasion dringend Geld. Was konnten sie schon verkaufen?“ Elena hat zum Abschied eine Botschaft: Sie werden nicht aufgeben, lautet sie.

    Da legt auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Stadtpark eine Band mit Schlagzeug, Tuba und Schifferklavier los. Der Seemann Kostja, der nach Odessa kommt, wird besungen. Ein altbekannter Gassenhauer. Auch hier tanzen Menschen ausgelassen. Und ausgelassen haut der Schlagzeuger auf sein Instrument ein, so sehr, dass ein Schlagzeugstock im weiten Bogen davon fliegt.

    Sänger der ukrainischen Band Kalush Orchestra. Sie gewann in diesem Jahr den Eurovision Song Contest (ESC) mit klarem Vorsprung.
    Sänger der ukrainischen Band Kalush Orchestra. Sie gewann in diesem Jahr den Eurovision Song Contest (ESC) mit klarem Vorsprung. Foto: Jens Büttner, dpa

    Nachdem der letzte Akkord des Kostja-Liedes verklungen ist, ruft der Sänger: „Was wünscht ihr euch?“ Vier Kinder rufen „Stefania“. „Stefania – von welcher Band ist das denn?“, scherzt der Sänger. Die vier Kinder blicken ihn verärgert an. „Na gut, los geht’s!“, ruft er. Die Kinder sind glücklich. Eine Stunde später verklingt die Musik, alles löst sich schnell auf. Die Sperrstunde beginnt um 23 Uhr, davor muss jeder zu Hause sein.

    Ein paar Stunden danach, mitten in der Nacht, schrillen wieder die Sirenen, Luftalarm, und die Glocken einer Kirche läuten für zwei, drei Minuten.

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