Svitlana liebt den Wald in Deutschland. Den Moosteppich, das raschelnde Blätterorchester unter ihren Füßen, die spätreifen Äpfel, die sie noch im November von der Wiese aufsammelte. In ihrem Städtchen im Donbass gibt es auch Wälder. Aber in den letzten Jahren fürchtete sie die dort vergrabenen Minen. Bei ihren Spaziergängen mied sie den Wald. Dann, Ende Februar, besetzten russische Truppen die Stadt.
Jetzt sitzt Svitlana auf einer Bank bei Schloss Lichtenstein in der Nähe von Stuttgart. Ihr Freund Sascha kämpft an der Front. Sie posiert für Selfies und schickt sie ihm. Er antwortet: „Zeig mir alles! Was du erlebst, erzähl mir, was du fühlst.“ Ein Stück weit lebt er durch sie, sagt sie.
Zusammen flohen Svitlana und Sascha in den ersten Tagen des Kriegs mit dem Auto nach Poltawa in die Zentralukraine. Poltawa liegt knapp fünf Stunden östlich von Kiew. Bei ihrer Flucht waren die Straßen auf dem Weg aufgerissen, Häuser standen in Flammen. Sie sahen Leichen am Straßenrand. Als sie endlich in Sicherheit waren, sagte Sascha: „Ich gehe an die Front.“ Er wollte es.
So wie Svitlana und Sascha geht es gerade unzähligen Ukrainerinnen und Ukrainern. Wie vielen genau, weiß niemand
„Anfangs war ich wütend, dass er mich allein lässt“, sagt Svitlana. Allmählich machte sie einen inneren Prozess durch, sie verstand: Wenn er nicht geht und kämpft, wird ihn das innerlich vernichten. „Ich würde ihn an meiner Seite verlieren.“ Sie fuhr damals weiter in die Westukraine, wo sie sich die hohen Mietkosten nicht leisten konnte. Eine Bekannte fragte sie: „Willst du nach Deutschland?“ Kurze Zeit später saß Svitlana in einem Minibus, der sie nach Baden-Württemberg brachte. Das war Mitte März.
Seitdem weiß sie immer, wann Sascha zuletzt online war. War er online, heißt das: Er lebt.
So wie Svitlana und Sascha geht es gerade unzähligen Ukrainerinnen und Ukrainern. Wie vielen genau, weiß niemand. Der Krieg trennt Frauen von ihren Männern, Eltern von ihren Kindern, Brüder von ihren Schwestern. Je nach Stationierung an der Front und Aufgabe beim Militär haben die Kämpfer regelmäßig oder unregelmäßig Handyempfang. Wann immer die Möglichkeit besteht, rufen sie ihre Liebsten an oder schreiben ihnen.
Einmal schickte Sascha Svitlana ein Video von einem Reh. Sie spielt es auf ihrem Telefon ab: Im Hintergrund Waldidylle, Sonnenuntergang, schwarzer Rauch auf pinkem Himmel. Ein Getöse wie Silvesterknaller. Das Reh hatte solche Angst vor den Explosionen, dass es Sascha und seinen Kameraden überallhin gefolgt war. Solange, bis sie es zurücklassen mussten.
Zuletzt sah Svitlana Sascha im August. Sie nahm den Bus von Stuttgart nach Poltawa. 2300 Kilometer
Wo genau sie Sascha stationiert haben, darf er ihr nicht verraten. Svitlana weiß nur, dass seine kleine Brigade für „Spezialoperationen“ zuständig ist. Er kämpft als Scharfschütze. Damit er keinen Ärger bekommt, wollen sie in diesem Artikel anonym bleiben. Sascha und Svitlana sind nicht ihre echten Namen.
Im Mai sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, von 40 Millionen Ukrainern seien 700.000 Soldaten zum Militärdienst einberufen worden – etwa 200.000 von ihnen seien für Kampfhandlungen ausgebildet. Jede fünfte Person ist eine Frau.
Jeden Tag werden kampftaugliche Männer von der Straße wegrekrutiert: alt und jung, kampferprobt und unerfahren. Wer nicht kämpfen will, gilt in der Ukraine als Persona non grata. Die Kriterien im Auswahlverfahren bleiben unklar. Manchmal wirkt das Ganze in seiner Willkür wie eine Lotterie. Eine Lotterie des Schreckens. Denn Regierungsaussagen zufolge sterben täglich zwischen 60 und 100 Soldatinnen und Soldaten. Anfang Dezember hieß es, bis zu 13.000 sollen bereits getötet worden sein. Angaben wie diese lassen sich schwer überprüfen. Wahrscheinlich ist, dass die tatsächliche Zahl der Toten deutlich höher liegt. Wie viele dieser Menschen Ehepartner und Kinder zurückließen, ist ebenfalls unbekannt.
Zuletzt sah Svitlana Sascha im August. Sie nahm den Bus von Stuttgart nach Poltawa. 2300 Kilometer. Sascha hatte ein paar Tage frei bekommen und kam nachts von der Front zurück. Als ihr Bus am Morgen Poltawa erreichte, wartete er auf sie. Sie schlang ihre Arme um ihn und konnte ihn nicht mehr loslassen. „Irgendwann dachte ich, das muss ihm zu viel sein.“ Aber, erzählt sie weiter, er habe sie gefragt: „Warum hast du losgelassen?“ Da verstand sie, er hat genauso dieses Bedürfnis, ständig berührt zu werden. An der Front hat er nur einen Kameraden, den er manchmal umarmt.
„Das Schwierigste war, mein Konto zu eröffnen“, sagte Sascha. Er meinte das erste Menschenleben, das er nehmen musste
Sascha ist Svitlanas Jugendliebe. Sie hatten einander 25 Jahre lang aus den Augen verloren. Inzwischen ist sie 47, er 52. Bei Kriegsbeginn waren sie seit einem Jahr wieder zusammen. Wenn Svitlana spricht, klagt sie nicht, weint nicht, sondern scherzt und lacht. Bloß einmal sagt sie: „Wann kommt endlich unsere Zeit, um glücklich zu sein?“
Während der vier Tage, die sie in Poltawa verbrachten, fragte sie ihn nichts. Wie ist es? Wie viele Menschen tötest du? Wie fühlt es sich an? Sie wusste, sie würde mit den Antworten nicht leben können. Einmal sagte er von sich aus: „Das Schwierigste war, mein Konto zu eröffnen.“ Er meinte das erste Menschenleben, das er nehmen musste.
Es hat sich im Krieg, unter Soldaten eine Art eigene Sprache entwickelt. Eine rohe, brutale Sprache. Sascha sagt oft: „der Feind“. Sagt: „Jeden Zentimeter werden wir zurückerobern.“ Die Leiche eines Feindes wird „Baran“ genannt, Schaf. Wie ein Tier, aus dem man Schaschlik macht. Sascha sagt auch nicht: „Sie werden mich töten.“ Er verwendet das Verb „zabaranjat“. Einschafen. Zerfleischen. In Poltawa erreichte ihn die Nachricht vom Tod eines Freundes. Svitlana schaute ihm in die Augen, um zu sehen, ob da Härte ist, ob er ein anderer ist. Er sei wie früher, ein Gutmütiger, sagt sie. Nur seine Berührungen seien hungriger geworden.
Als sie sah, mit welcher Überzeugung Sascha kämpfte, wiederholte sie ständig einen Satz: „Versuche, im Krieg nicht zum Tier zu werden!"
Handyempfang hatte er an der Front erst selten, mittlerweile hat sich das geändert. Wenn er in den ersten Monaten doch mal anrief, sagte er, sie sollten heiraten. Damit Svitlana finanziell versorgt sei, falls er stirbt. Das ukrainische Gesetz sieht eine einmalige Entschädigungszahlung für Witwen und Familienangehörige von verstorbenen und verwundeten Soldaten vor. Svitlana hätte keinen Anspruch auf dieses Geld, Saschas Kinder schon. Diese sind erwachsen und leben in Kiew.
Svitlanas Tochter Ira, ihr Schwiegersohn und deren kleines Baby leben in den Separatistengebieten der 2014 selbsternannten pro-russischen Volksrepublik Lugansk. Dort im Donbass fürchten viele Menschen die ukrainische Gegenoffensive. Einige sind pro-russisch eingestellt, andere wollen nach acht Jahren Krieg einfach in Ruhe gelassen werden. Ira erzählt ihr am Telefon, dass man in den letzten Wochen immer wieder auf Svitlanas Städtchen schießt, aus dem sie mit Sascha geflohen war – dieses Mal von „unseren ukrainischen Truppen“, die immer näher rückten. Svitlana sagt dazu, sie sei zerrissen. Sie sehnt sich nach einem Sieg der Ukraine. Gleichzeitig sorgt sie sich um ihre Familie. Die Gegenoffensive bedeutet auch, dass ihr Kind, die Enkelin, Schwester und Mutter, die alle dort geblieben sind, ins Kreuzfeuer geraten könnten.
Als sie sah, mit welcher Überzeugung Sascha kämpfte, wiederholte sie ständig einen Satz: „Versuche, im Krieg nicht zum Tier zu werden! Denk dran: Mein Kind lebt auf der anderen Seite.“
Sollte Sascha aus dem Krieg zurückkehren, wird er nie wieder derselbe sein, das weiß sie
Vor einigen Wochen traf Sascha ein Granatsplitter und riss das Fleisch in seinem Arm auf. Es war nicht seine erste Verletzung. Aber die erste, nach der er für drei Tage ins Krankenhaus geschickt wurde. „Wir konnten den ganzen Tag über Videochat sprechen“, sagt Svitlana.
Sollte Sascha aus dem Krieg zurückkehren, wird er nie wieder derselbe sein, das weiß sie. Doch daran kann sie jetzt nicht denken. Der Krieg macht alles Planen unmöglich. Sie denkt an ihren Sprachkurs und an ihre traumatisierten ukrainischen Patientinnen, die sie hier als Psychologin betreut. An die Weihnachtsgeschenke für alle Mitglieder ihrer deutschen Gastfamilie, bei der sie monatelang lebte und mit der sie nach wie vor in engem Kontakt steht. Mit ihr wird sie Weihnachten feiern. Das ist momentan ihr Leben.
Svitlana kann sich nicht vorstellen, in der Ukraine zu leben. Im Trainingsanzug schlafen? Nachts in den Keller rennen und die Sirenen hören, so wie in all den Jahren seit 2014? Als sie nach ihrem letzten Besuch in Poltawa die Grenze zwischen der Ukraine und Polen überquerte, fühlte es sich an, als könne sie plötzlich wieder atmen. Wochenlang konnte sie sich von der Reise nicht erholen.
Nächstes Jahr möchte sie nicht mehr zurück. Sascha versteht, dass die Sirenen sie zu sehr traumatisieren. Er versucht nicht, sie zu überreden.