Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Krieg in der Ukraine: Sicherheitsexperte Krause: "Putin fährt sein Militär an die Wand"

Krieg in der Ukraine

Sicherheitsexperte Krause: "Putin fährt sein Militär an die Wand"

    • |
    Kurz nach dem Rückzug russischer Truppen reiste der ukrainische Präsident Selenskyj in den befreiten Teil der Ostukraine. Er kündigt weitere Erfolge seiner Armee an.
    Kurz nach dem Rückzug russischer Truppen reiste der ukrainische Präsident Selenskyj in den befreiten Teil der Ostukraine. Er kündigt weitere Erfolge seiner Armee an. Foto: Leo Correa, AP

    Herr Krause, die ukrainische Armee erzielt deutliche Geländegewinne in diesem Krieg. Kann das tatsächlich eine Wende sein?

    Joachim Krause: Die Geländegewinne sind gar nicht so wichtig. Entscheidend sind die hohen Verluste und das Ausmaß der Desorganisation auf der russischen Seite. Wichtig ist auch die Durchtrennung der Versorgungslinien für die russischen Truppen im Donbass. Streitkräfte können durchaus Gelände aufgeben, wenn es dazu beiträgt, dass einzelne Truppen nicht isoliert oder gar eingeschlossen werden. Das haben die Ukrainer im April getan, als sie große Teile der Provinz Luhansk und auch Mariupol aufgaben, um sich auf sichere Verteidigungspositionen zurückzuziehen. Entscheidend ist jetzt, ob es den Russen gelingt, sich wieder zu sammeln und eine neue Verteidigungslinie aufzubauen. Ob das gelingt, wird sich zeigen. Das Ausmaß der Verwirrung und Panik auf russischer Seite in den letzten Tagen lässt erkennen, dass diese Aufgabe sehr viel Kraft und Führung erfordert.

    Ein ukrainischer Soldat füttert Katzen auf einer Straße in der befreiten Stadt Izium in der Region Charkiw.
    Ein ukrainischer Soldat füttert Katzen auf einer Straße in der befreiten Stadt Izium in der Region Charkiw. Foto: Kostiantyn Liberov, dpa

    Welchen Anteil haben westliche Waffen an der Stärke der Ukraine?

    Krause: Das lässt sich derzeit noch nicht mit aller Bestimmtheit sagen. Sicher ist, dass die Lieferungen der Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS und anderer moderner Artillerie zusammen mit anderen Waffensystemen zum Erfolg der Ukrainer beigetragen haben. Wichtig waren die aus Polen, Tschechien und anderen früheren Ostblockstaaten gelieferten Kampfpanzer und Schützenpanzer. Eine Stärke der Ukrainer war allerdings die Schwäche der Russen. Diese haben sich durch die vorherigen, von der politischen Führung in Moskau entgegen aller militärischen Vernunft angeordneten Offensivoperationen verausgabt und waren ausgedünnt. Sie sind zudem durch Führungsmängel, Abwesenheit von Kampfmoral und schlichte Fehler in der taktischen Führung eine leichte Beute der Ukrainer geworden. Zudem muss man sagen: Dieser Krieg ist ein Volkskrieg der Ukrainer gegen die Besatzer geworden. Die Ukrainer haben in diesem Kriegstheater heute schon mehr Soldaten unter Waffen als Russland. Und die Probleme Russlands, geeignetes Personal für die Infanterie zu finden, werden immer größer.

    Was heißt das für die weitere westliche Politik?

    Krause: Wir werden der Ukraine noch mehr Waffen liefern müssen, damit die Streitkräfte es schaffen, die russischen Verbände möglichst bald nach Russland zurückzutreiben. Es werden besonders gepanzerte Fahrzeuge jeder Art, Luftabwehrsysteme, Panzerabwehrwaffen und Artillerie benötigt.

    Nutzt der Westen seine Möglichkeiten weit genug aus?

    Krause: Nein, es werden noch viel zu viele Restriktionen angewandt. Vor allem der Bundeskanzler fällt durch eine ausgesprochene Hasenfüßigkeit auf. Sein Argument, wonach Deutschland Waffen nur nach Absprache mit seinen wichtigsten Verbündeten liefern werde, ist falsch. Die amerikanische Botschaft in Berlin hat deutlich gemacht, dass die US-Regierung keine Probleme hätte, wenn Deutschland – wie andere Nato-Staaten auch – gepanzerte Fahrzeuge und auch Kampfpanzer liefert.

    Deutschland wird immer wieder wegen seiner Zögerlichkeit kritisiert. Hätten nicht auch die USA mehr Möglichkeiten gehabt?

    Krause: Das ist richtig. Die USA hätten als Garantiemacht des Budapest-Memorandums von 1994 (in dem die Ukraine ihre Kernwaffen an Russland abgab und dafür Sicherheitsgarantien erhielt) eine viel festere Haltung gegenüber den russischen Angriffsplänen einnehmen müssen. Es ist mir bis heute unerklärlich, warum Präsident Biden sich dem Vorschlag vieler Senatoren widersetzte, im Dezember vergangenen Jahres gemeinsame Übungen der US-Streitkräfte mit ukrainischen Streitkräften abzuhalten. Stattdessen hat er öffentlich erklärt, die USA würden nicht zur Verteidigung der Ukraine eingreifen. Und auch die Waffenlieferungspolitik Washingtons unterliegt Restriktionen, die der Ukraine sehr viel Schaden zugefügt haben.

    Seit Ausbruch des Krieges geistert die Sorge vor einer nuklearen Eskalation durch viele Köpfe ...

    Krause: Die Sorge um eine nukleare Eskalation geistert vor allem in Deutschland herum und hat zu einer Politik der panikgetriebenen Selbstabschreckung beigetragen, die letztendlich nur Putin nützt. Man muss die Dinge realistisch sehen. Russland hat kaum Möglichkeiten der Eskalation mehr, außer der nuklearen. Nur sind die Risiken einer nuklearen Eskalation für Putin unkalkulierbar. Drohungen gegen Nato-Mitgliedstaaten werden nichts bringen, denn diese werden durch die amerikanischen Nuklearwaffen geschützt. Die einzige Sorge, die ich mir mache, ist, dass Russland auf die Idee kommt, die Ukraine mit dem Einsatz taktischer Kernwaffen zur Kapitulation zu zwingen. Aber selbst dann ist nicht sicher, dass die Ukrainer kapitulieren werden. Russland wird hingegen sämtliche Unterstützung von außen verlieren und seine internationale Isolation wird enorm sein.

    Eine 84-jährige Anwohnerin wurde in ihrem Haus am östlichen Stadtrand von Bakhmut durch eine russische Granate verletzt.
    Eine 84-jährige Anwohnerin wurde in ihrem Haus am östlichen Stadtrand von Bakhmut durch eine russische Granate verletzt. Foto: Daniel Carde, dpa

    Was bedeutet die aktuelle Lage für Friedensgespräche?

    Krause: Bis vor einer Woche hätte Putin noch die Gelegenheit gehabt, die sogenannte Spezialoperation als erfolgreich und als beendet zu erklären und einen Waffenstillstand auszurufen. Die meisten westlichen Regierungen hätten die Ukrainer gedrängt, diesen Waffenstillstand anzunehmen. Diese Gelegenheit ist vertan. Die Ukrainer haben nach dem Erfolg im Bezirk Charkiw nicht nur „Blut geleckt“, sondern – was viel wichtiger ist – die vielen Beispiele der Misshandlung und willkürlichen Tötung ukrainischer Bürger durch die russische Soldateska haben den Spielraum Selenskyjs für Kompromisse gegen null gehen lassen. Kein ukrainischer Präsident kann es verantworten, einem Waffenstillstand zuzustimmen, bei dem seine Bürgerinnen und Bürger der russischen Willkür und Assimilationspolitik ausgesetzt bleiben.

    Egal ob in der Luft oder zu Land – die russische Armee blieb hinter den Erwartungen zurück. Woran kann das liegen?

    Krause: In der ersten Phase des Krieges – bis Ende März – lag es daran, dass das russische Militär gravierende Fehler in der operativen Planung vorgenommen hatte, die vermutlich auf politischen Druck zurückzuführen waren. Aber auch auf taktischer Ebene gab es gravierende Fehler und Defizite, die erkennen ließen, dass der quantitativ beeindruckende Aufbau der russischen Streitkräfte in den Jahren davor nicht zu einer Umstellung in der Doktrin geführt hatte. Weder konnten die Heeres- und Luftstreitkräfte einander zuarbeiten, noch funktionierte die Logistik. Große Defizite gab es in der internen taktischen Kommunikation. Außerdem erwies sich die Moral der russischen Streitkräfte als katastrophal: Von Kampfeswillen war wenig zu spüren, für viele russische Soldaten waren Plünderungen und Vergewaltigungen wohl eher das Hauptmotiv.

    Der russische Präsident Wladimir Putin hat ich mit seinem Vorgehen in der Ukraine massiv verschätzt.
    Der russische Präsident Wladimir Putin hat ich mit seinem Vorgehen in der Ukraine massiv verschätzt. Foto: Alexander Zemlianichenko, dpa

    Was war Russlands größer Fehler in diesem Kriegsverlauf?

    Krause: Der größte Fehler war und ist, dass Russland einen Präsidenten hat, der sich als ein allen anderen überlegener Großstratege begreift und der das russische Militär immer wieder zu Aktionen antreibt, die es überfordern und letztlich zerstören. Putin fährt sein Militär an die Wand – und seine Wirtschaft und sein Land auch gleich mit. Die Frage ist, wie lange macht das Militär, wie lange machen das die Menschen noch mit?

    Wie wahrscheinlich ist eine Wendung zugunsten Russlands?

    Krause: Derzeit recht unwahrscheinlich. Aber ausgeschlossen ist es nicht, sollten wir und andere westliche Staaten die militärische Unterstützung für die Ukraine drosseln oder gar einstellen. Wenn sich die USA bei Waffenlieferungen genauso verhalten würde wie die Bundesregierung, wäre die Ukraine verloren.

    Wird Putin eine allgemeine Mobilmachung wagen?

    Krause: Ich vermute nicht. Zum einen, weil sich die Probleme an der Front damit in absehbarer Zeit nicht werden lösen lassen. Zum Zweiten würde in dem Augenblick die ganze Verlogenheit der „Spezialoperation“ offenkundig werden und es würde zu einer gewissen Unruhe in den großen Städten kommen. Letzteres würde für Putin mit erheblichen innenpolitischen Risiken verbunden sein.

    Joachim Krause, Chef des Instituts für Sicherheitspolitik.
    Joachim Krause, Chef des Instituts für Sicherheitspolitik. Foto: Waldemar Krause

    Zur Person: Joachim Krause, 71, ist wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) und Chefredakteur von Sirius - Zeitschrift für strategische Analysen.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden