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Selenskyj-Rede im Bundestag: "Reißen Sie diese Mauer ein"

Krieg in der Ukraine

Selenskyj im Bundestag: "Herr Bundeskanzler, reißen Sie diese Mauer ein"

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    Die Rede von Wolodymyr Selenskyj wurde auf großen Bildschirmen übertragen.
    Die Rede von Wolodymyr Selenskyj wurde auf großen Bildschirmen übertragen. Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa

    Dieser Mann klagt an. Er ist nicht da, um den Deutschen zu danken. Nicht für ihr Geld, ihre Helme, ihre Panzerfäuste und DDR-Raketen. Wolodymyr Selenskyj zeigt dem mächtigsten Land Europas, wie enttäuscht er von ihm ist.

    Er zeigt es den Abgeordneten im Bundestag und der Bundesregierung stellvertretend für das ganze Volk. „Wir haben kapiert, Sie wollen die Wirtschaft,

    "Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft": Selenskyj trifft die deutsche Außenpolitik ins Mark

    Zugeschaltet ist er wahrscheinlich aus Kiew. Er trägt den vollen schwarzen Bart und das olivgrüne Hemd des Kriegspräsidenten, hinter ihm die blau-gelbe Fahne. Seit drei Wochen wehren sich die Ukrainer gegen den russischen Überfall. Der Präsident verkörpert sein Volk, er ist das Herz und die Seele des Widerstands. Die Deutschen schont er nicht, zählt ihnen beschämende Lektionen auf. Dass sie die Warnungen vor Putin nicht ernst genommen haben, dass sie Geschäft vor Werte stellen. „Wir haben immer gesagt Nord Stream 2 ist eine Waffe und wir haben als Antwort bekommen, das ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“

    Selenskyj trifft damit die deutsche Außenpolitik ins Mark, die zwar immer hochmoralisch daherkam, aber im Kern der Wirtschaft nutzen sollte. Die Abgeordneten empfangen den Belagerten mit stehendem Beifall, was seine Empörung aber nicht besänftigt. Er schildert ihnen die Gräuel des Krieges. 108 tote Kinder, bombardierte Häuser, in Schutt gelegte Schulen und zerrissene Kliniken „Auch jetzt zögern Sie beim Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union“.

    Und er packt die Deutschen bei der eigenen, unheilvollen Geschichte, auf deren Aufarbeitung sie so stolz sind. In der Schlucht von Babyn Jar erschossen vor 80 Jahren die Nazi-Einsatzgruppen über 30.000 Juden. Vor kurzem schlug dort eine russische Rakete ein.

    Das Zögern des Westens frustriert den ukrainischen Präsidenten Selenskyj

    Am Tag vor seiner Rede im Reichstag hatte Selenskyj schon die Amerikaner bei ihrem Trauma gepackt - dem Terroranschlag auf die Zwillingstürme in New York. Bei der in den US-Kongress übertragen Rede sprach er die versammelten Politiker auch direkt an: „Erinnern Sie sich an den 11. September 2001, als unschuldige Menschen aus der Luft angegriffen wurden?" Um dann zu erklären: "Das erfährt unser Land jeden Tag seit drei Wochen."

    Von Amerika wie von Deutschland fordert er eine Flugverbotszone über der Ukraine. Das hört sich technisch an, bedeutete aber, dass russische Kampfflugzeuge von westlicher Flugabwehr abgeschossen würden. Die Nato lehnt es ab, will nicht in den Krieg mit Russland eintreten, der in der nuklearen Apokalypse enden könnte.

    Selenskyj frustriert das Zögern des Westens. Er hat die westlichen Werte auf seiner Seite, doch das nützt dem Mann aus dem Osten nur bedingt. Nicht einmal das volle Wirtschaftsembargo hat er bis jetzt bekommen, um Wladimir Putin zu schwächen. Die Deutschen sind zu abhängig vom Kremlherren.

    Die Abgeordneten applaudieren - doch Rührung und Tränen wie im US-Kongress gibt es nicht

    Sein Flehen, sein Drängen verbindet Selenskyj in der Person des früheren amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, dem erklärten Kommunistenfresser. Reagan hatte Gorbatschow einst zugerufen, die Berliner Mauer niederzureißen. Selenskyj wendet sich jetzt an den deutschen Kanzler Olaf Scholz (SPD), der die neue Mauer zwischen Freiheit und Unfreiheit in Europa zerstören soll. „Herr Bundekanzler, reißen sie diese Mauer ein. Ihre Nachkommen werden stolz auf Sie sein.“ Damit endet die Rede des Mannes aus dem Kriege.

    Die Abgeordneten erheben sich wieder, applaudieren. Doch die Stimmung ist gedrückt, verhalten. Keine Rührung, keine Tränen wie im US-Kongress. Nachdem die Geschichte zu Gast war, gratuliert die stellvertretende Parlamentspräsidentin den Abgeordneten, die Geburtstag haben. Als nächsten Tagesordnungspunkt debattiert das hohe Haus das Für und Wider einer Impfpflicht.

    Immerhin die Opposition regt sich, es wird sogar laut, es wird geschrien. CDU und CSU hatten schon vor drei Tagen eine Aussprache verlangt. Das deutsche Parlament sollte dem ukrainischen Präsidenten antworten. Die Ampel-Koalition lehnte das ab.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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