Wenn der Wolf im Wolfspelz, Sergej Lawrow, Hilfe anbietet, dann ist das in der Regel eine unverhohlene Drohung. So auch jetzt wieder: „Wir helfen dem ukrainischen Volk auf jeden Fall, sich von dem absolut volks- und geschichtsfeindlichen Regime zu befreien“, sagte der russische Außenminister am Sonntag während eines Besuchs in Ägypten. In Zukunft würden das russische und das ukrainische Volk zusammenleben, fügte er bei einem Besuch in Kairo hinzu. Die Ankündigung des Sturzes der ukrainischen Regierung und Präsident Wolodymyr Selenskyj lässt aufhorchen, davon war zuletzt nicht mehr die Rede gewesen.
Ein Alleingang Lawrows, der noch im Mai nach aberwitzigen Theorien zum Thema Antisemitismus vom Kreml zurückgepfiffen worden war, kann ausgeschlossen werden. Denn bereits von einigen Tagen hieß es aus Moskau, dass Friedensgespräche mit Kiew nur unter „völlig neuen“, sprich deutlich härteren Bedingungen denkbar seien. Die aktuelle Ausweitung der Kriegsziele fällt in eine Phase des Konflikts, in der nach den Erfolgen der Russen im Donbass an den meisten Fronten Stillstand herrscht. Gleichzeitig platzen die Worte Lawrows in die internationale Kritik an der Luftattacke auf Odessa hinein. Moskau hatte am Samstag im übertragenden Sinne seine Raketen auf das gerade ausgehandelte Abkommen über ukrainische Getreidelieferungen durch das Schwarze Meer abgeschossen und wieder einmal gezeigt, worauf man sich gefasst machen muss, wenn man mit Russland verhandelt.
Russland im Ukraine-Krieg: Die Verkündung wechselnder Ziele hat auch psychologische Ebene
Die Verkündung neuer Kriegsziele, die der Kreml in dem bereits seit fünf Monaten tobenden Konflikt proklamiert hat, sind teils mit militärischen Entwicklungen zu erklären, aktuell jedoch eher als Ansage, die die Psyche der Gegner treffen soll.
Am Anfang schien alles noch ganz klar: Zu Beginn der Kampfhandlung Ende Februar forderte Putin die ukrainische Bevölkerung auf, sich zu ergeben. „Wir haben nicht vor, die Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren“, sagte Putin. Die „Spezialoperation“ solle zur „Entnazifizierung“ führen und die Bevölkerung vor den Verbrechen der kriminellen Führung in Kiew schützen. Zu diesem Zeitpunkt war sich der Kremlchef sicher, dass sein Feldzug auf wenig Widerstand und sogar auf Unterstützung der Ukrainerinnen und Ukrainer treffen würde. Tatsächlich erreichten seine Truppen nach wenigen Tagen die Vororte der Hauptstadt.
Doch dann folgte ein böses Erwachen. Die gewaltigen Militärkonvois, die völlig unkoordiniert und mit einer chaotischen Befehlsstruktur in das Nachbarland eindrangen, liefen ins offene Messer, verloren viele Soldaten und hunderte von Panzern und Militärfahrzeugen. Einen Monat nach Beginn nahm eine staunende Welt zur Kenntnis, dass der russische Vormarsch im Norden der Ukraine gescheitert war. Und sie erfuhr von bestialischen Kriegsverbrechen der russischen Soldateska in Irpin oder Butscha.
Nach dem Rückzug aus dem Norden erklärte Moskau, man werde nun eine Offensive starten, um mithilfe der russlandtreuen Separatisten den Donbass im Osten zu „befreien“ – dies war das neue, offizielle ausgerufene Ziel des Krieges. Mitte April begannen die Truppen mit brutalen Angriffen, bei denen zivile Ziele systematisch beschossen wurden. Die Einnahme der fast völlig zerstörten Stadt Mariupol wurde – wie später die Eroberung des Regierungsbezirks Luhansk – als wegweisender Erfolg gefeiert. Das neue Ziel: die Eroberung der gesamten Südukraine. Von einem Sturz der ukrainischen Regierung war in dieser Phase des Krieges offiziell nicht die Rede. Bis Lawrow am Sonntag genau damit in Kairo drohte.
Bisher hatten die verkündeten Ziele Russlands im Ukraine-Krieg keine lange Halbwertzeit
Festzuhalten ist, dass Kriegsziele, die Moskau postuliert, bisher keine lange Halbwertzeit hatten. Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass Putin sehr wohl einen Punkt immer im Auge hat: Die Ukraine soll langfristig derart destabilisiert werden, dass sie nicht nur von Freiheit und Demokratie, sondern auch von ihrer Souveränität Abschied nehmen muss.
Das ist keine Überraschung, denn Moskau ist seit Jahren an der Seite derer, die das liberale, freiheitliche System verachten. In Belarus oder Ungarn, aber auch in Deutschland, Frankreich, Österreich und anderswo.