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Krieg in der Ukraine: Russland – eine vergewaltigte Gesellschaft

Putin kann sich der Unterstützung der Russen sicher sein.
Krieg in der Ukraine

Russland – eine vergewaltigte Gesellschaft

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    „Krieg? Welcher Krieg denn?“ Es war der 24. Februar, als Sergej, der ein Bürohaus im Westen Moskaus bewacht, müde und irritiert von seinem Smartphone aufschaute. In den Morgenstunden an jenem nassen Februartag hatte der russische Präsident Wladimir Putin seinen Marschbefehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben. „Ach das, in der

    Mehr als drei Monate später sagt Sergej dasselbe: „Krieg? Welcher Krieg denn?“ Es klingt ähnlich gleichgültig und beiläufig wie im Februar. Sergej ist nicht allein damit. Das macht die Sache für ihn einfacher. Er ist in der Mehrheit. Einer russischen Mehrheit, die sich vom Krieg im Nachbarland desinteressiert abwendet, die ihn rechtfertigt, ihn gut findet. Manche furios, die meisten still und passiv. 80 Prozent stehen hinter dem Angriff, hat das unabhängige russische Umfrageinstitut Lewada-Zentrum ausgerechnet. Die Zahlen sind in einem Land der Unterdrückung mit Vorsicht zu genießen, und doch ist die Mehrheit da, sie trägt die Taten, sie trägt das Regime.

    Schüler denunzieren ihre Lehrer, Mütter weinen um ihre Söhne

    „Eine vergewaltigte Gesellschaft schätzt Stärke sehr“, sagt Lew Gudkow, der Lewada-Chef. Schüler denunzieren ihre Lehrer, die sich danach vor Gerichten verantworten müssen, weil sie den Krieg verurteilen. Mütter beweinen bitterlich ihre Soldatensöhne, von denen ihnen das Verteidigungsministerium einmal erzählt, diese seien in Gefangenschaft, ein anderes Mal, sie erfüllten ihren Dienst, aber es wisse niemand, wo sie gerade seien. Die „Spezialoperation“ stellen die Mütter dabei nicht infrage. Sie nennen nicht einmal die Dinge beim Namen. „Fracht 200“, sagen sie über die Gefallenen, „Fracht 300“ zu Verletzten. Und „Spezialoperation“ zum Krieg. Manchmal sprechen sie von „Ereignissen“. Schicksalsergeben.

    Hinterbliebene setzt das Regime unter Druck, droht, die umgerechnet 113.000 Euro, die die Regierung Familien der gefallenen Soldaten versprochen hatte, für ihren toten Sohn, Bruder, Vater nicht auszuzahlen, sollten sie reden, sollten sie kritisieren, verurteilen. Künstlern, die Putin als den Verantwortlichen für den Krieg sehen, verbietet es Auftritte, Ehrenamtlichen, die ukrainischen Geflüchteten aus Russland raus helfen, schüchtert es mit Strafverfahren ein. Wie es Kritiker – Aktivisten, Journalisten, Oppositionelle – stets mit Strafverfahren eingeschüchtert und viele von ihnen ins Ausland getrieben hat. In den Einkaufszentren gibt es Spielzeug-Kalaschnikows und Plastikpanzer zu kaufen, wie eh und je.

    Der Krieg hat den Militarismus im Land lediglich verschärft. Den Kult der Gewalt vergrößert. Angelegt waren sie in der Gesellschaft seit Langem. Eltern erniedrigen ihre Kinder, weil sie in ihnen nichts wissende Manipulierer sehen. Sie zwingen sie zur Loyalität, lassen ihnen selten eine Wahl. Die, die das infrage stellen, brandmarken die „Traditionalisten“ als „vom Westen Vergiftete“. Es ist nicht Putin, der sich in den Kriegstagen verändert hat. Es ist die russische Gesellschaft, die nun in der Straflosigkeit der Gewalt lebt. Leben darf, weil ihr Präsident die Gewalt zum obersten Machtprinzip erklärt hat. Die in der Lüge lebt und leben muss, weil alles andere lebensgefährlich erscheint.

    Auf Russland fallen keine Bomben. Und doch ist das Land zerstört

    Die Minderheit leidet. Sie leidet an ihrem Land, an ihren Mitmenschen, an zerstörter Zukunft, an zerstörten Plänen. Sie leidet in Einsamkeit und Verzweiflung. Manche leiden auch in einer Zelle, weil sie nicht still sein wollen. In einer Diktatur.

    Russland ist vermint. Russische Familien sind vermint. Ohne dass Bomben fallen, zerstört sich das Land selbst. Und feiert sich dafür mit Feuerwerken. Selbst auf Geburtstagen von Sechsjährigen erhellen bunte Lichter den dunklen Himmel, die so klingen wie der Beschuss der Städte in der Ukraine. Dem Nachbarland, von dem die Menschen in Russland sagen, es seien ihre „Brüder und Schwestern“ und gleichzeitig betonen, dass es die Ukraine nicht gebe. Es ist der Widerspruch, den sie leben, den sie gutheißen, den sie hinnehmen. Denn: „Von mir hängt ohnehin nichts ab“, sagen sie dann. Sie haben es jahrzehntelang gelernt. Haben es verinnerlicht, dass sie nichts zählen. Dass sie Verfügungsmasse sind.

    Sie schweigen. Sie leugnen. Manchmal weinen sie.

    Diese Tragik wird nicht hinterfragt. Es wird ohnehin wenig hinterfragt in diesen Tagen in Russland. Und die, die es stets und laut gemacht haben, sind weg aus dem Land. So manche Exilanten trennen sich von ihrer russischen Staatsbürgerschaft. Die anderen, Gebliebenen, zermartern sich, wann, wohin und wie sie ebenfalls gehen könnten. „Aber das ist mein Zuhause. Meine Heimat, die Schreckliche.“ Viele emigrieren deshalb zumindest innerlich. Oder pflegen den Stumpfsinn, samt mantraartiger Wiederholung der Propagandasprüche aus dem Staatsfernsehen.

    „Es ist alles nicht so eindeutig“, sagt Diana, die Moskauer Ökonomin mit eigener Firma, die nun zunichte ist. „Ich kann nicht mehr in Israel investieren und so an eine Aufenthaltsgenehmigung dort kommen“, sagt Schenja, die Schauspielerin. „Ich habe eine in Deutschland beantragt“, entgegnet ihr Kollegin Rita. „Es muss doch alles einen Sinn ergeben“, sagt Julia, die Krebskranke aus dem Osten des Landes mit einem 25-jährigen Reservisten-Sohn zu Hause. Was für einen Sinn ergibt ein Krieg? Julia verstummt. Schenja, Rita, Diana. Auch Sergej. Sie schweigen. Sie leugnen. Manchmal weinen sie. Still. Sie schützen sich. Und draußen scheint die Sommersonne.

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