Wolodymyr Selenskyjs Augenringe werden immer dunkler und dicker. Die Erschöpfung ist dem ukrainischen Präsidenten ins Gesicht geschrieben. Aber mehr noch der Schmerz . Das Wissen um das Leid seiner Landsleute. Denn Butscha, dieser Ort des Grauens, könnte überall sein in der Ukraine. Und es könnte sogar noch schlimmer kommen. Auch das ist in Selenskyjs Gesicht zu lesen, als er in seiner nächtlichen Videoansprache wieder einmal warnt: „Wenn wir nicht die Waffen bekommen, die wir brauchen, wird Russland das als Einladung verstehen. Als Erlaubnis, eine neue blutige Welle im Donbass loszutreten.“
Der Donbass, das sind die Gebiete Donezk und Luhansk, in denen russische Söldner unter dem Deckmantel eines separatistischen Kampfes schon seit 2014 Krieg führen. Sie haben dort eigene „Volksrepubliken“ geschaffen, die weltweit niemand anerkennt. Außer der Regierung in Moskau. Nun deutet alles darauf hin, dass die Region zum Ausgangspunkt einer neuen russischen Großoffensive wird. Selenskyj ruft die Menschen im Osten des Landes mit täglich wachsender Dringlichkeit zur Flucht auf. Denn klar ist auch, dass die ukrainische Armee nicht weichen wird. „Wir werden kämpfen“, sagt der Präsident lapidar. Es ist einfach nur ein Fakt, den er nebenbei erwähnt. Der Vollständigkeit halber. Zweifel am ukrainischen Verteidigungswillen lässt er nicht zu.
In den kommenden Tagen könnte die Gewalt noch einmal deutlich zunehmen
In dieser Lage scheint es eine ausgemachte Sache zu sein, dass der russische Angriffskrieg in den kommenden Tagen noch einmal deutlich an Gewalt zunehmen wird. Der Rückzug aus der Region um Kiew und aus dem Norden der Ukraine sei nur „Teil einer Neuorganisation der russischen Streitkräfte gewesen“, erklären westliche Geheimdienste. So sieht es auch der Danziger Militäranalyst Konrad Muzyka. „Die Einheiten, die Russland abgezogen hat, werden in die Gebiete Charkiw-Isjum und in den Donbass verlegt. Die Kräfte südlich von Isjum haben bereits eine neue Offensivachse in Richtung Barnikowo eröffnet“, erläutert Muzyka.
Im vergangenen Winter gehörte der Pole zu den wenigen Fachleuten weltweit, die den russischen Truppenaufmarsch richtig einschätzten. „Sie bereiten sich auf einen großen Krieg vor“, erklärte er früh – und fand kaum Gehör. Das ist nun anders. Muzyka zählt mittlerweile zu den meistbeachteten Militärexperten, die Russlands Angriffskrieg analysieren. Und deshalb deuten manche Beobachter seine Berichte über eine neue Offensivachse bei Isjum sogleich als den Beginn der „zweiten Welle“. Einige internationale Medien berichten am Donnerstag bereits von dem Versuch der russischen Armee, die ukrainischen Truppen im westlichen Donbass in einem „gigantischen Kessel“ von Nachschub abzuschneiden. Eine Bestätigung dafür gibt es zunächst nicht. Die meisten Fachleute erwarten die Offensive für dieses Wochenende.
Aus Muzykas Analysen geht klar hervor, dass das Abflauen der Kämpfe in den vergangenen Tagen nichts anderes war als eine Scheinruhe vor dem erneuten Sturm. Zumal von echter Ruhe in diesen Tagen ohnehin keine Rede sein kann. Charkiw, Mariupol und viele andere Städte im Osten und Süden stehen weiter unter schwerem Beschuss. Tag für Tag sterben dort Menschen. Selenskyj ist überzeugt, dass Russland einen humanitären Zugang nach Mariupol vor allem deshalb blockiert, um „tausende zivile Opfer" zu verschleiern. Russische Soldaten seien dabei, die nahezu vollständig zerbombte Stadt von Spuren des Grauens „zu säubern“. Aber es könnte eben noch extremer werden in den kommenden Wochen. Denn am Horizont scheint bereits das Datum 9. Mai auf.
Das ist der „Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg“, an dem in Russland an die Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erinnert wird. Auch in der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ist der 9. Mai einer der wichtigsten Feiertage. In der aktuellen Lage jedoch werden sich alle Augen nach Moskau richten.
Denn der russische Präsident Wladimir Putin steht unter hohem politischem Druck, seinen Landsleuten einen „Sieg“ in der Ukraine zu präsentieren. Oder zumindest militärische Erfolge, die sich propagandistisch als Sieg verkaufen lassen. Schließlich wird Putin am 9. Mai die Militärparade auf dem Roten Platz abnehmen.
Der Druck auf den russischen Generalstab dürfte immens sein
Der ehemalige General Ben Hodges, bis 2017 Oberkommandierender des US-Heeres in Europa, ist sicher: „Es wird ein immenser Druck auf den russischen Generalstab ausgeübt, bis zum 9. Mai einen Sieg zu erringen.“ Zumal Putin den Angriff auf die Ukraine mit dem Ziel begründet hat, das Nachbarland zu „entnazifizieren“. Dass dies mit der Wirklichkeit in der Ukraine nichts zu tun hat, ist dabei das eine. Das andere ist, dass Putin am Tag des Sieges über Nazi-Deutschland kaum ohne eine Erfolgsmeldung im behaupteten Kampf gegen die angeblichen „Nazis in Kiew“ auf die Tribüne am Roten Platz treten kann.
Das jedoch wirft die Frage auf: Was wäre „alles“? Zuletzt skizzierten Fachleute immer wieder ein Szenario, in dem Putin sich mit der Eroberung eines Landkorridors vom Donbass zur Krim „zufriedengeben“ könnte. Der Osteuropa-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik warnt hingegen vor Wunschdenken im Westen: „Ich glaube nicht, dass Putin aufgegeben hat, Kiew zu erobern. Das erklärte Ziel der russischen Führung betrifft weiterhin die gesamte Ukraine.“ Auch Selenskyj gibt sich keinen Illusionen hin. „Noch habt ihr die Möglichkeit, uns die Waffen zu geben, die wir brauchen, um diese Aggression zu stoppen“, sagt er an die Adresse des Westens. Passiere dies nicht, werde dies „ein historischer Fehler sein“.
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