Diese Eindrücke werden EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch lange begleiten. Die ausgebrannten russischen Panzer und Militärfahrzeuge mitten im Kiewer Vorort Butscha. Die zerschossenen und verkohlten Wohnhäuser. Die schwarzen Leichensäcke auf schlammigem Boden, aufgereiht vor einer Kirche. "Mein Instinkt sagt: Wenn das kein Kriegsverbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrechen?", sagt sie am Samstagmorgen im Zug auf der Rückfahrt von Kiew kurz vor der polnischen Grenze. Dann fügt sie noch hinzu: "Aber ich bin eine gelernte Ärztin, und das müssen nun Juristen sorgfältig ermitteln."
Auch den EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat die Reise schwer beeindruckt. Und sie hat eine klare Erkenntnis bei ihm hervorgebracht. Angesichts der erwarteten Großoffensive Russlands in der Ostukraine brauche die Regierung in Kiew vor allem eins: Waffen, Waffen, Waffen. "Sanktionen sind wichtig, aber Sanktionen werden das Problem der Schlacht im Donbass nicht lösen."
Johnson spaziert mit Selenskyj in Anzug und Krawatte durch Kiew
Nur drei Stunden nach Rückkehr der vom slowakischen Ministerpräsidenten Eduard Heger begleiteten EU-Delegation nach Polen trifft schon der nächste Gast aus der Europäischen Union in Kiew ein: Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer. Am Nachmittag wird dann bekannt, dass auch der britische Premierminister Boris Johnson überraschend in Kiew ist.
Ein Video wird verbreitet, dass ihn bei einem Spaziergang mit Präsident Wolodymyr Selenskyj durch die ukrainische Hauptstadt zeigt, in die nach Wochen der Belagerung langsam wieder ein bisschen Normalität einkehrt. Die beiden gehen begleitet von schwer bewaffneten Spezialkräften, aber ohne Schutzausrüstung, durch die Straßen von Kiew - Johnson in Anzug und Krawatte, Selenskyj im oliv-farbenen Militärlook.
Union: Scholz soll sich vor Ort Bild von der Lage machen
Schon Mitte März waren die Regierungschefs von Polen, Tschechien und Slowenien in der Ukraine - als Pioniere einer Reisewelle, der sich in den nächsten Wochen wohl noch zahlreiche westliche Politiker anschließen werden. Die Union forderte am Wochenende vehement, dass dazu auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zählen sollte. "Ich wünsche mir, dass auch unser Bundeskanzler diesem Beispiel folgt und sich vor Ort ein Bild macht", sagte der Unions-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, Roderich Kiesewetter, dem "Handelsblatt".
Während von der Leyen in Kiew war, flog Scholz am vergangenen Freitag nach London, um Johnson zu treffen - kurz bevor der nach Kiew abreiste. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem britischen Premier wurde der Kanzler gefragt, ob er denn auch Pläne für einen Solidaritätsbesuch in Kiew habe. "Über Reisepläne teilen wir beide, glaube ich, immer dann etwas mit, wenn wir losfahren", sagte er lediglich. Das ist zwar kein Nein. Aber es kann auch nicht als Andeutung gelesen werden, dass da bald was kommen könnte.
Kanzler auf Distanz zum Krieg - Noch kein Treffen mit Flüchtlingen
Es gibt einiges, was gegen eine baldige Reise spricht. Scholz hat den Krieg in der Ukraine in den vergangenen Wochen auf Distanz gehalten - zumindest physisch. Der Berliner Hauptbahnhof, an dem in den letzten Wochen Zehntausende ukrainische Kriegsflüchtlinge angekommen sind, ist nur wenige hundert Meter vom Kanzleramt entfernt. Scholz war kein einziges Mal dort, um sich ein Bild von der Lage zu machen und mit den Flüchtlingen zu sprechen.
Auch die Bundeswehrtruppen an der Nato-Ostflanke, die im Zuge des Kriegs verstärkt wurden, hat Scholz noch nicht besucht. Als Selenskyj ihn in seiner Video-Ansprache im Bundestag persönlich aufforderte, die Mauer zwischen der EU und der Ukraine niederzureißen, blieb der Kanzler stumm.
Selenskyj empfindet Scholz-Regierung als "zurückhaltend und kühl"
Für Scholz wäre ein Besuch in Kiew deutlich schwieriger als für von der Leyen und Johnson. Die beiden wurden von Selenskyj auch deshalb so herzlich empfangen, weil sie in Kiew als anpackende Unterstützer wahrgenommen werden. Die EU-Kommissionspräsidentin wird in der Ukraine als Verbündete bei den Bemühungen um einen beschleunigten EU-Beitritt gesehen. Johnson kündigte bei seinem Besuch die Lieferung von 120 gepanzerten Fahrzeugen und von Anti-Schiff-Raketen an. Das ist es, was Selenskyj von Besuchern erwartet.
Die deutsche Regierung gilt ihm dagegen immer noch als zögerlich. In einem am Wochenende veröffentlichten "Bild"-Interview spricht der Präsident offen über sein Verhältnis zu Scholz. Es habe einen Moment gegeben, in dem er über den Kanzler gedacht habe: "Ist es wirklich nötig, dass du erst ein Bombardement erleben musst, um Mitgefühl zu empfinden?" Der Präsident trennt sehr genau zwischen der deutschen Bevölkerung, die zu Zehntausenden für die Ukraine auf die Straße geht, und der Regierung, die "zurückhaltend und kühl" bleibe - auch wenn es nun "erste Signale der Unterstützung" gebe.
Besuch erwünscht - aber am besten mit Panzern im Gepäck
Wegen solcher Signale meint der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, dass sich ein Besuch des Kanzlers lohnen könnte. "Es wäre von zentraler Bedeutung, dass der Besuch vom Kanzler Scholz gleichzeitig von neuen strategischen Entscheidungen der Ampel-Koalition begleitet würde", sagt Melnyk in einem dpa-Interview.
Gemeint sind Waffenlieferungen. Konkret: Leopard-Kampfpanzer, Marder-Schützepanzer, Panzerhaubitzen 2000, Artillerieortungsgeräte vom Typ Cobra und Anti-Schiff-Raketen vom Typ Harpoon aus den Beständen der Bundeswehr. "Das alles wäre laut unserer Analyse für die Bundesrepublik durchaus verkraftbar, ohne die Landesverteidigung oder die Verpflichtungen in der Nato zu schwächen", sagt Melnyk.
Steinmeier denkt über Kiew-Reise nach
Es ist aber gut möglich, dass Scholz nicht der erste Gast aus Deutschland ist, der das ukrainische Kriegsgebiet besucht. Über eine mögliche Reise von Außenministerin Annalena Baerbock soll es nach dpa-Informationen schon erste Gespräche gegeben haben. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier signalisierte am Freitag bei einem Besuch in Finnland offen Interesse an einer Kiew-Reise: "Selbstverständlich denke ich auch darüber nach, wann der richtige Zeitpunkt ist für meinen nächsten Besuch in Kiew."
Melnyk meint allerdings, es wäre besser, wenn der Regierungschef nach Kiew kommt. Ein Besuch des Bundespräsident hätte symbolischen Charakter. "Es sollten lieber der Bundeskanzler oder andere Mitglieder der Bundesregierung kommen, die konkrete Entscheidungen über weitere massive Unterstützung für die Ukraine treffen." (dpa)