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Krieg in der Ukraine: Raketeneinschlag in Polen ist ein Vorgeschmack auf den Albtraum der Nato

Krieg in der Ukraine

Raketeneinschlag in Polen ist ein Vorgeschmack auf den Albtraum der Nato

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    Die Botschafter der 30 Nato-Staaten versammelten sich zu Dringlichkeitsgesprächen nach einem Raketeneinschlag auf polnischem Gebiet.
    Die Botschafter der 30 Nato-Staaten versammelten sich zu Dringlichkeitsgesprächen nach einem Raketeneinschlag auf polnischem Gebiet. Foto: Olivier Matthys, dpa

    Das polnische Dorf liegt keine zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Ein Landwirt und ein Vorarbeiter sind gerade in der Trocknungsanlage in einem Agrarbetrieb in Przewodów beschäftigt, als die Rakete einschlägt. Die Familienväter, beide um die 50, sterben. Sie sind sozusagen der „Kollateralschaden“ eines Krieges, der nun schon fast neun Monate dauert.

    Es ist seit Monaten die größte Sorge im Hauptquartier in Brüssel: eine mögliche Verstrickung der Nato in den Krieg in der Ukraine und damit eine direkte Konfrontation mit Russland. Dementsprechend alarmiert zeigte sich das Bündnis über den Raketeneinschlag in Polen. Einerseits. Andererseits wollte die transatlantische Verteidigungsallianz so besonnen, maßvoll und zurückhaltend reagieren wie möglich und erst einmal die Lage prüfen. Dann gab es Entwarnung. Vorläufige Analysen legten nahe, so verkündete Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Explosion wohl von einer ukrainischen Abfangrakete verursacht wurde, die zur Abwehr russischer Raketenangriffe abgefeuert worden sei. Das System S-300 ist sowjetischer Bauart und ein wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr, die Tag für Tag enorm beschäftigt ist. Es gebe „keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff“ auf den osteuropäischen Mitgliedstaat, sagte Stoltenberg. „Was passiert ist, nämlich dass eine Rakete auf unser Territorium fiel, war keine vorsätzliche Handlung“, bestätigt der polnische Präsident Andrzej Duda.

    Die Nato will nicht zur Kriegspartei werden

    Trotzdem, politisch dürfte das Unglück Polens Stimme künftig deutlich mehr Gewicht geben. Moskau hatte schon am Dienstag dementiert, Ziele im Grenzgebiet beschossen zu haben, und bezeichnete die Berichte als „bewusste Provokation“. Seit der erneuten Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar dieses Jahres legt die Allianz größten Wert darauf, nicht als Kriegspartei zu gelten. Eine weitere Eskalation soll mit allen Mitteln verhindert werden. Gleichwohl aber betont die Nato immer wieder, das Bündnisgebiet verteidigen zu wollen, sollte es zu einem Angriff kommen. Als umso brisanter wurde deshalb der militärische Zwischenfall an der Grenze betrachtet.

    Doch auch wenn der Irrläufer von ukrainischen Luftabwehrsystemen stamme, treffe nicht die Ukraine die Schuld, wie Stoltenberg mehrmals bekräftigte. „Russland trägt die Verantwortung“ für das, was in Polen passiert sei. Es handele sich um „eine direkte Folge des andauernden Krieges“. Das attackierte Land habe jedes Recht, sich zu wehren.

    Dass der Kreml offensive militärische Aktionen gegen das Bündnis plane, dafür gebe es laut Stoltenberg keine Anzeichen. Er versicherte aber, dass sich die Nato auf Unfälle wie diesen vorbereite, um zu verhindern, dass sie passieren – „und wenn sie passieren, um sicherzustellen, dass sie nicht aus dem Ruder laufen“. Die Allianz sei darauf eingestellt, mit solchen Situationen „standfest, ruhig und entschlossen“ umzugehen.

    Stoltenberg ist so etwas wie der Inbegriff von Besonnenheit. Experten lobten den gemäßigten Ton und die deeskalierende Wortwahl, die sich durch die Äußerungen aus Brüssel zogen. Am Vormittag hatten die 30 Nato-Botschafter in einer Dringlichkeitssitzung über mögliche Reaktionen beraten.

    Nach Raketeneinschlag in Polen: Nato-Bündnisfall wird nicht ausgerufen

    Noch kurz zuvor rätselten Beobachter über die Frage, ob die Regierung in Warschau sich auf Artikel 4 des Nordatlantik-Vertrags berufen und eine Aussprache der Verbündeten verlangen würde. Polen hatte diese Möglichkeit geprüft, sah nach einem Telefonat mit Stoltenberg und US-Präsident Joe Biden dann aber keinen Anlass, das Verfahren einzuleiten. Die meisten bisher gesammelten Beweise deuteten darauf hin, dass „die Auslösung von Artikel 4 dieses Mal vielleicht nicht notwendig sein wird“, hieß es von Regierungschef Mateusz Morawiecki. In diesem sichern sich die Nato-Staaten „Konsultationen“ in allen Fällen zu, in denen ein Mitglied „seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit“ gefährdet sieht. Daraus gehen aber nicht zwingend gemeinsame Schritte hervor.

    Artikel 5 wäre dagegen deutlich weitreichender. Darauf beruht die gemeinsame Sicherheitsgarantie der Allianz. Der Eckpfeiler des Vertrags besagt, dass ein „bewaffneter Angriff“ auf ein Nato-Mitglied eine Attacke auf alle ist – und eine kollektive Antwort vorsieht. In der Geschichte der Organisation wurde dieser sogenannte Bündnisfall erst einmal ausgerufen: als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Als Folge beteiligte sich Deutschland in Afghanistan am Krieg gegen die Taliban und die Terrorgruppe Al-Qaida.

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