In den Bäumen zwitschern die Vögel, es leuchtet frisch im Frühlingsgrün. Vor dem grauen Wohnblock stehen in Knallrot die Feuerwehrfahrzeuge. Flammen lodern im dritten Stockwerk aus dem Fenster. Der Rauch beginnt, den Beton schwarz zu färben. Der Schlauch ist abgerollt, zwei Mann packen an. Der Wasserstrahl schießt nach oben, direkt in die Wohnung. Das Feuer verwandelt sich in eine mächtige Qualmwolke, die im Umkreis alles in einen feinen, rauchigen Nebel packt.
„Wir haben es noch rechtzeitig unter Kontrolle gebracht“, erklärt Roman und blickt konzentriert nach oben zum Brandherd. Er ist Chef der zuständigen Feuerwache. Romans Männer haben von der Alarmierung bis zum Brandort deutlich weniger als zehn Minuten gebraucht. Die Ambulanz ist auch schon da. Ein Teenager sitzt mit Tränen in den Augen im Rettungsfahrzeug. Das Mädchen steht völlig unter Schock. Die Inneneinrichtung der Wohnung ihrer Eltern besteht nur noch aus verkohlten Trümmern.
Krieg in der Ukraine: Fernsehturm in Charkiw eingestürzt
Brandursache: technisches Versagen. Die betagte Klimaanlage fing nach der Winterpause Feuer, als sie wieder in Gang gesetzt wurde. Für die Familie eine Tragödie, der Schaden ist immens. Roman wäre froh, wenn es "nur" solche Einsätze in der Stadt gäbe. Doch in Charkiw wüten mehr und mehr Brände, die eine ganz andere Ursache haben. Die Einschläge von Raketen, Gleitbomben und Drohnen nehmen in jüngster Zeit wieder drastisch zu. Russland greift seit März gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine an. Und das mit erschreckendem Erfolg. Immer wieder kommt es landesweit zu Blackouts. Im Fokus stehen dabei unter anderem Ziele in Charkiw und Region. Charkiw ist mit geschätzten 1,5 bis zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Ukraine.
Am Montag dann traf es den Fernsehturm der Stadt. Videos in sozialen Netzwerken zeigten, wie die Spitze des 240 Meter hohen Turms abbrach und in die Tiefe stürzte; auch eine Explosionswolke war zu sehen. Verletzt wurde dabei Behördenangaben zufolge niemand. Fernsehtürme in der Ukraine sind seit dem russischen Einmarsch vor über zwei Jahren mehrfach bombardiert oder mit Raketen beschossen worden. Ziel ist es offenbar, die Bevölkerung von Informationen aus ukrainischen Quellen abzuschneiden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte noch am Montagabend, die Arbeiten zur Wiederherstellung des Fernsehempfangs liefen. Und verknüpfte das mit seiner inständigen Bitte an die internationalen Partner um mehr Hilfe bei der Luftverteidigung. "Wir müssen allem, was Russland als Basis für Terror und für seine militärische Logistik nutzt, größtmöglichen Schaden zufügen", betonte Selenskyj.
Seit Monaten werden die Hilferufe der Ukraine nach mehr Luftabwehr immer verzweifelter. Denn den Soldaten fehlt schlicht die Ausstattung, um sich gegen die russische Übermacht zu verteidigen. Seit dem Wochenende hat man in Kiew neue Hoffnung geschöpft – schon, weil die ersehnte und lange blockierte US-Militärhilfe zum Greifen nahe ist. Denn das US-Repräsentantenhaus hatte nach monatelangem Stillstand ein Hilfspaket über 61 Milliarden US-Dollar gebilligt, das auch dringend benötigte Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine gegen Russland enthält. Selenskyj sparte daraufhin nicht mit Dank: "Das ist eine Entscheidung, die uns das Leben rettet", sagte er am Wochenende. Der Senat soll voraussichtlich am Mittwoch zustimmen. US-Präsident Joe Biden muss das verabschiedete Gesetzespaket dann noch unterschreiben. Das aber gilt als Formsache.
Für die Menschen in Charkiw bedeutet eine nicht ausreichende Luftabwehr bisher schlicht Schutzlosigkeit. Sie erleben einen Albtraum, der nicht enden will. Vor allem in den ersten drei Monaten der russischen Invasion ab dem 24. Februar 2022 war die Metropole hart umkämpft. Die Millionenstadt liegt keine 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Schätzungsweise die Hälfte der Menschen in Charkiw spricht Russisch. Doch Putin hatte sich fundamental getäuscht, als er deswegen ihre Loyalität zur Ukraine infrage stellte. Viele meldeten sich gleich zu den Waffen, die Stadt konnte gehalten werden.
Zu Anfang der Invasion stiegen die Rauchsäulen fast ununterbrochen in den Himmel
Auch wegen tapferen Menschen wie Roman, die die Stellung hielten. Die Stadt funktionierte weiter bis ins Detail. Trotzig bepflanzten städtische Mitarbeiter im Frühling 2022 die öffentlichen Blumenbeete in Parks und am Straßenrand, während über der Stadt der Donner der Artillerie lag. In Stadtvierteln wie Saltiwka verwandelte die russische Artillerie ganze Blocks in Ruinen. Russische Truppen hatten sich bis in die Vororte vorgekämpft. Auf Charkiw gingen Artilleriegeschosse, Raketen und selbst Mörsergranaten nieder. 80 Prozent der Bevölkerung floh damals vor den Kämpfen und der drohenden Besatzung. Tausende, die blieben, hausten für Monate in den Metro-Stationen.
„Es war der völlige Wahnsinn“, meint Roman. Dann erzählte er von den Toten, von Menschen mit zerfetzten Gliedmaßen, von unfassbarer Trauer an den Orten der Einschläge. Die Angst und die matte Hoffnung in den Gesichtern der Angehörigen, die noch auf Überlebende in den Trümmern hofften. „Ich habe Menschen gesehen, die vor Schmerzen geschrien haben, Frauen, die bitterlich weinten. Tote. Aber wir konnten viele Leben retten“, berichtet der 35-Jährige. In diesen Anfangsmonaten der Invasion stiegen die Rauchsäulen der Einschläge fast ununterbrochen in den Himmel über der Metropole.
„Uns fehlte am Anfang die grundlegendste Ausrüstung. Auf die Invasion waren wir nicht vorbereitet", erklärt der Feuerwehrkommandant. "Wir waren die Feuerwehr einer friedlichen Stadt. Weit weg von der Idiotie des Kriegs.“ Mittlerweile hat sich einiges getan, Fahrzeuge und Ausrüstung wurden gespendet. Der Wagen mit der Drehleiter ist beispielsweise eine Spende aus den USA. Er hat einige Jahre und Kilometer auf dem Tacho. Aber das Chrom der Armaturen glänzt noch immer wie eine Espresso-Maschine. Auch aus Deutschland kam Unterstützung. „Dafür sind wir sehr dankbar“, erklärt Roman. Nils Thal, ein Feuerwehrmann aus Nürnberg, leistet derzeit sogar Dienst bei der Einheit von Roman. "Nils hat viel für uns getan. Es tut uns allen gut, seine Solidarität zu erleben", sagt der Kommandant.
Heute, 137 Einsätze später, leben Romans Frau und seine Tochter seit bald zwei Jahren als Geflüchtete in einer ländlichen Gemeinde in Mittelfranken. Wenn der Feuerwehrmann von seinen „beiden Mädchen“ erzählt, hört man mit jedem Satz, wie sie ihm fehlen. In seinem Büro hängt in Postergröße ein Foto der Familie. Vergangenes Jahr schöpfte Roman neue Hoffnung, dass sie bald wieder vereint sein könnten. Die Situation besserte sich, die russischen Truppen waren bereits über die Grenze zurückgedrängt, berichtet er. "In die Stadt kehrte mehr und mehr Leben zurück. Meine Frau und ich schmiedeten Pläne für ihre Rückkehr. Doch die Lage jetzt erinnert mich zunehmend an den Anfang der Invasion.“
Der Familienvater will nicht einmal, dass Frau und Tochter zu Besuch kommen. „Es ist zu gefährlich. Es wird immer gefährlicher“, schüttelt der 35-Jährige den Kopf. Seit Russland im März begonnen hat, die Energieinfrastruktur anzugreifen, hat sie schwere Treffer erhalten. Ratternde Generatoren stehen vor Geschäften und Restaurants. Putin terrorisiert mit seinen Angriffen die Zivilbevölkerung. Der Alltag soll unleidlich werden. Blackouts helfen dabei. So können Geflüchtete nicht zurückkehren, andere verlassen die Ukraine wieder. Putin kommt das gerade recht. Das gibt Stimmen bei der nächsten Europawahl für rechtsextreme Parteien, die ganz in seinem Sinn agieren: wie die AfD.
Für Putins perfide Taktik bezahlen Männer wie Roman die Rechnung. Durch Ausbildungsmaßnahmen im Ausland konnte er seine Familie zumindest zwei Mal für wenige Tage sehen. Ansonsten muss der Videochat reichen.
Seit Kriegsbeginn kamen 91 Angehörige von Rettungsteams ums Leben
Auf dem Foto in seinem Büro trägt er seine Uniform. Die Einsatzkleidung hat sich seit Beginn der Invasion geändert. Eine Schutzweste ist jetzt Pflicht. Sie soll vor Splittern schützen, wenn Blindgänger durch die Hitzeentwicklung am Einsatzort explodieren. Und vor der neuen, perfiden Taktik der russischen Armee, die so aussieht: Russland schießt eine Salve Raketen ab. Feuerwehr, Rotes Kreuz und andere Helfer kommen zum Ort des Einschlags. Dann folgt die zweite Salve mit den gleichen Zielkoordinaten. Vor wenigen Tagen starb dabei ein Feuerwehrmann, dessen Sohn auch im Einsatz war. Seit Beginn der Invasion kamen 91 Angehörige von Rettungsteams ums Leben, 348 wurden verwundet.
„Bei 136 Einsätzen hatten wir seit der Invasion 26 Zweitbeschüsse“, rechnet der 35-Jährige vor. Er nennt es "Russisch Roulette". Die Helfer müssen Maßnahmen zu ihrer Sicherheit ergreifen, die den Einsatz vor Ort verlangsamen. Tun sie es nicht, eliminiert der zweite Angriff Helfer und Material, die beim nächsten Angriff auf ukrainischer Seite fehlen. Die Logik eines Kriegsverbrechers, Putins Logik.
Roman trat mit 17 Jahren in die Berufsfeuerwehr von Charkiw ein. „Mein Beruf ist nicht ungefährlich. Doch man kann durch gute Ausbildung das Risiko minimieren“, erklärt er. Schlägt eine zweite Rakete ein, wenn er vor Ort löscht, gibt es nichts, was er zu seinem Schutz tun kann. „Meine Frau macht sich deswegen große Sorgen. Leider versteht auch meine Tochter, wie gefährlich es ist. Ich wünsche mir nur, sie müssten sich nicht so um mich sorgen“, sagt er.
Roman wünscht sich die Zeiten zurück, als keine Raketen den Alarm in seiner Feuerwache auslösten. Als er und seine Kameraden einfach zum Schutz einer friedlichen Stadt im Einsatz waren.