Eine "Zeitenwende" hat Bundeskanzler Olaf Scholz unter dem Schock des Ukraine-Kriegs angekündigt: Waffenlieferung an die Ukraine, deutlich mehr Geld für die Bundeswehr, Schritte, die Deutschland unabhängiger machen sollen von russischem Gas. Das stellt die Gewissheiten aller im Bundestag vertretenen Parteien auf eine schwere Probe, stellt alte Gewissheiten infrage und lässt alte Wunden wieder aufbrechen. Das zeigt sich schon in Scholz' eigenem Lager und exemplarisch an Rolf Mützenich.
Der Chef der Bundestagsfraktion wirkt in diesen Tagen bis tief ins Mark erschüttert. Als in der Wolle gefärbter Pazifist hat sich der Rheinländer stets empfunden, er steht wie kein anderer für eine konsequente Abrüstungspolitik. Mit der von Putin befohlenen Invasion, das sagen Mitglieder der Fraktion, die ihn seit langem kennen, ist für ihn eine Welt zusammengebrochen. "Kriegsverbrecher", nannte Mützenich den russischen Präsidenten nun. Die SPD erinnert sich zunehmend ihrer sicherheitspolitischen Tradition, an die SPD-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt, die unter dem Druck des Kalten Krieges die Bindung zu den USA und Nato gestärkt hatten. Dass Ex-SPD-Kanzler Gerhard Schröder dagegen bis zuletzt für Putins Energie-Imperium lobbyierte, wird vielen in der SPD nun immer peinlicher. Es zeichnet sich ab, dass selbst bisherige "Russlandversteher" den Scholz-Kurs unterstützen werden.
"Zeitenwende" im Ukraine-Krieg: Nicht alle sehen die Rüstungspläne positiv
Auch für die Grünen ist die angekündigte Zeitenwende genau das: ein völliger Umbruch, der ureigene Gewissheiten infrage stellt. Am Thema Waffenlieferungen etwa haben viele Grüne deutlich heftiger zu kauen als etwa Wirtschaftsminister Robert Habeck, der diese früh für notwendig hielt. Auch die im Völkerrecht ausgebildete Außenministerin Annalena Baerbock fand früh recht klare Worte gegen Putin. In Teilen der Grünen aber blitzen jetzt die alten Wurzeln in der Friedensbewegung auf.
Die Grüne Jugend etwa zeigte sich irritiert über die Rüstungspläne der Bundesregierung. Dass Kanzler Scholz ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr angekündigt hat, sei "ohne jegliche politische oder gesellschaftliche Debatte geschehen", so Timon Dzienus, der Co-Vorsitzende des Partei-Nachwuchses. Ungeteilte Zustimmung bei den Grünen findet dagegen die Ankündigung des Kanzlers, beim Ausbau der erneuerbaren Energien zusätzlich Tempo zu machen, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.
Union trägt "Zeitenwende" in deutscher Sicherheitspolitik mit
Die FDP als dritte und kleinste Regierungspartei steht fest zu den Ankündigungen des Kanzlers. Dabei boten die Liberalen in der Vergangenheit zum Thema Russland ein durchaus vielstimmiges Konzert. Partei-Urgestein Wolfgang Kubicki etwa sprach sich in den vergangenen Jahren immer wieder dafür aus, die gegen Russland schon im Zuge der Annektierung der Krim verhängten Sanktionen ohne Bedingungen aufzugeben. Selbst Kubicki fordert nun harte Konsequenzen gegen Russland. Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner macht ohne Murren das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr locker.
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) hat am Sonntag deutlich gemacht, dass CDU und CSU alle Maßnahmen der "Zeitenwende" mittragen werden. Merz lobte die Regierungserklärung des Bundeskanzlers ausdrücklich, verkniff sich aber nicht den Seitenhieb auf einen allzu nachgiebigen Kurs der SPD gegenüber Russland in der Vergangenheit.
Für die konservativen Parteien geht es aber auch um das Erbe der Kanzlerschaft von Angela Merkel. Die hatte zwar wenig Illusionen über das Machtstreben Putins, ließ dem russischen Präsidenten aber - auch mangels Alternativen - vieles durchgehen. Bei der Frage, warum die Bundeswehr sich heute in einem so desolaten Zustand befindet, müssen sich CDU und CSU an die eigene Nase fassen. Sie stellten seit 2005 auch die Verteidigungsministerin oder den Verteidigungsminister. Obwohl die Steuergelder meist reichlich vorhanden waren, trotzte Merkel den Mahnungen der Nato-Partner, mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben. Für die Union, die sich in besonderem Maße in der Tradition der Westbindung sieht, korrigiert die Ampel nun auch eigene Versäumnisse.
Der Fakt der russischen Invasion hat die Linkspartei blamiert
In der Linkspartei kommt es einem Erdbeben gleich, dass Fraktionschefin Amira Mohamed Ali bei der Sondersitzung eingeräumt hat, dass Russland für den Krieg in der Ukraine verantwortlich ist und ihre Partei die Absichten Putins falsch eingeschätzt hat. In der Linken, die ihre Wurzeln auch in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands der DDR hat, sind das bemerkenswerte Worte. Bei früheren russischen Aggressionen, etwa der Annexion der Krim, waren solche Töne kaum zu hören. Noch wenige Tage vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte etwa die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen bei einer Kundgebung am Brandenburger Tor dem Westen, den Medien und der Nato "Kriegstreiberei" vorgeworfen. Der Fakt der russischen Invasion hat die Linkspartei blamiert. Doch dass sie Investitionen in die Bundeswehr, "dieses Hochrüsten, diese Militarisierung", nicht mittragen wird, hat Mohamed Ali deutlich klar gemacht.
Die AfD verurteilt die russische Invasion zwar, doch dass ihre Haltung zu Putins Krieg eine sehr spezielle ist, zeigte sich schon zu Beginn der Sondersitzung. Der Großteil der Abgeordneten erhebt sich von den Plätzen, als der ukrainische Botschafter Andij Melnyk begrüßt wird, nur die AfD-Fraktion bleibt demonstrativ sitzen. In der Debatte wirft Fraktionschef Tino Chrupalla Scholz vor, den Kalten Krieg reaktiviert zu haben, Co-Chefin Alice spricht vor allem von der "Kränkung Russlands". Ähnlich wie in der Linkspartei gibt es auch in der AfD zahlreiche Politiker, die enge Verbindungen nach Moskau pflegen. Aufhorchen ließ Chrupalla zuletzt, als er sich für die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine auch in Deutschland aussprach. Sie sollten Beistand finden, "um nach Entspannung der Konfliktlage wieder gestärkt in ihre Heimat zurückkehren zu können", sagte er. In den Jahren zuvor hatte sich die AfD als Anti-Asyl-Partei profiliert. Unterstützung für seinen Reformkurs kann Scholz von der AfD ebenso wenig erwarten wie von der Linken.
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