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Krieg in der Ukraine: Putin-Sorge und Nato-Vertrauen: Wie Estland auf den Krieg blickt

Krieg in der Ukraine

Putin-Sorge und Nato-Vertrauen: Wie Estland auf den Krieg blickt

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    Demonstranten versammeln sich während einer Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine gegen die Invasion Russlands in Tallinn in Estland.
    Demonstranten versammeln sich während einer Kundgebung zur Unterstützung der Ukraine gegen die Invasion Russlands in Tallinn in Estland. Foto: Raul Mee, AP/dpa

    Der 24. Februar ist ein besonderer Tag in Estland. Mit Feuerwerken und Konzerten feiern die Esten an diesem Tag ihre Unabhängigkeit. Der Präsident nimmt eine Parade ab, die Flagge wird gehisst. Doch neben ihrer Trikolore aus schwarz, blau und weiß haben die Esten in diesem Jahr noch eine andere Flagge auf die Masten gezogen: das blau-gelbe Banner der Ukraine.

    Die Solidarität mit der Ukraine ist groß in Estland: Mehr als 24.000 Geflüchtete hat das 1,3 Millionen-Einwohner-Land, das für seine Digitalisierung bekannt ist, bislang aufgenommen. Gleichzeitig weckt der russische Überfall auf die Ukraine schlimme Erinnerungen an die eigene Geschichte und schürt die Sorge, das nächste Land auf Putins Liste zu sein. Schließlich war Estland, wie die Ukraine, Teil der Sowjetunion, deren Zerfall Wladimir Putin einst als "die größte geopolitische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Und: Estland verbindet eine rund 330 Kilometer lange Grenze mit Russland. Etwa ein Viertel der estnischen Einwohnerinnen und Einwohner sind Russinnen und Russen. In kaum einer anderen Stadt in Europa kommen sich die EU und ihr Nachbar so nahe wie in Narva, im Nordosten Estlands, wo nur der gleichnamige Fluss die Hermannsfeste von der russischen Burg Ivangorod trennt.

    Estland ist Mitglied der Nato

    Wie wahrscheinlich ein russischer Angriff auf das Baltikum jedoch ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es gibt die einen, die sagen: ein Angriff auf das

    In den Ansichten der Experten spiegelt sich die Haltung vieler in der estnischen Bevölkerung wider: Da ist einerseits Sorge vor einem russischen Angriff. Andererseits beruhigt die Nato-Mitgliedschaft die Gemüter. Seit 2017 hat das transatlantische Verteidigungsbündnis Truppen in Estland, Lettland und Litauen stationiert. Zehn Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine besuchte US-Außenminister Anthony Blinken die drei baltischen Staaten und versicherte: "Wir werden jeden Zentimeter des wären verpflichtet, Beistand zu leisten.

    Eine Angst, die in Estland unterschwellig immer vorhanden ist

    Dieser Schutzschirm beruhigt auch Tiina Pärtel. Die 29-Jährige lebt in Tallinn, arbeitet dort als Podcasterin. "Wir sind sicher, weil wir Teil der Nato sind. Das ist, worauf wir alle zählen", sagt Pärtel. Aber natürlich habe sie Angst gehabt in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn. "Was mir geholfen hat, war der Gedanke, dass ich genug Geld habe, um in letzter Minute ein Flugticket irgendwohin zu kaufen, falls es dazu kommt", sagt sie.

    Eva-Clarita Pettai
    Eva-Clarita Pettai Foto: Pettai

    Der russische Angriff auf die Ukraine habe in Estland eine Angst geschürt, die "unterschwellig immer vorhanden ist", erklärt Eva-Clarita Pettai. Die Politikwissenschaftlerin hat 13 Jahre lang an der estnischen Universität Tartu gelehrt und sich mit der jüngsten Geschichte und Politik der baltischen Staaten befasst. Seit 2017 ist sie wieder zurück in Deutschland. "Man hört in Estland manchmal diese ironischen, fast zynischen Bemerkungen nach dem Motto: 'Mal schauen, wie lange wir hier noch weitermachen können. Irgendwann kommen die Russen sowieso'", sagt Pettai. Dahinter steckt die Erinnerung an die Okkupation 1940, als die Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen im Rahmen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes besetzte und annektierte. Ein Jahr später nahm

    Eine Vergangenheit, die sich auf das Handeln heute auswirkt. "Jede Familie hat irgendeine Art von Verlust erlebt durch den Stalinismus", erklärt Pettai. "Sei es, dass Familienangehörige deportiert oder umgebracht wurden, sei es, dass sie in den Westen geflohen sind." Das sei sehr gegenwärtig in den Familien und werde in jeder Schule unterrichtet. Auch in Tiina Pärtels Familie gibt es solche Geschichten: "Meine Oma und mein Opa waren kurz davor, nach Sibirien deportiert zu werden. Aber mein Großvater sprach mehrere Sprachen, unter anderem Russisch und Deutsch. Dadurch konnte er die Wachen ablenken. Er hat ihnen etwas Wodka angeboten und die Familie konnte in den Wald flüchten", erzählt sie.

    "In 24 Stunden stehen wir Gewehr bei Fuß und kämpfen für Estland"

    Der Krieg in der Ukraine weckt im Baltikum aber nicht nur düstere Erinnerungen, er bestätigt auch die Haltung vieler Esten: "Spätestens seit 2008 haben sie vor Russland und Wladimir Putin gewarnt und davor, was er wirklich im Schilde führt", sagt Politikwissenschaftlerin Pettai. "Aber man hat ihnen im Westen nicht zugehört und stattdessen abgewiegelt."

    Nun besteht die Sorge, dass Russlands Machthaber mit dem Überfall auf die Ukraine durchkommt: "Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Putin Kiew den Ukrainern überlässt und die Europäer dann die Sanktionen herunterdrehen. Dann wird er seine Wunden lecken und weitermachen", sagt Riho Terras. Der 54-Jährige war bis 2018 Oberbefehlshaber der estnischen Streitkräfte und sitzt seit zwei Jahren für die konservative EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. "Angst haben wir keine", erklärt Terras. Estland sei außerdem gut vorbereitet: "Wir haben seit 2005 systematisch zwei Prozent und mehr in Ausrüstung investiert und werden jetzt noch eine Milliarde investieren", erklärt der ehemalige General. "In 24 Stunden stehen wir Gewehr bei Fuß und kämpfen für Estland."

    Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Das ist auch das Motto der estnischen Freiwilligenarmee. Rund 26.000 Personen sind Mitglied im "Kaitseliit", der estnischen Bürgerwehr, und der mit ihr verbundenen Organisationen wie dem Frauenverband oder den Nachwuchsgruppen. Unter der Woche gehen sie einer normalen Arbeit nach. An mehreren Wochenenden im Jahr schlüpfen sie aber in Flecktarn und halten Manöver ab. Im Ernstfall sollen sie die estnische Armee unterstützen. Die jüngsten Ereignisse haben für regen Zulauf bei der Organisation gesorgt: Wie die estnische Freiwilligenarmee mitteilt, haben sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine bislang rund 1600 Frauen und Männer beworben. Und Hunderte und Aberhunderte würden noch kommen, schreibt der zuständige Major aus der Kommunikationsabteilung.

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