Mehr als 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges hat Wladimir Putin mit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine die bisherige Friedensordnung in Europa zertrümmert. Angriffe mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Raketen und Bodentruppen wurden am Donnerstag nicht nur aus dem Osten der Ukraine gemeldet, wo sich zwei Provinzen schon lange auf Russlands Seite geschlagen haben, sondern auch aus anderen Teilen des Landes. Andrij Melnyk, der Botschafter der Ukraine in Deutschland, sprach von einem „groß angelegten Angriffskrieg“. Ja, schlimmer noch: Putin führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Ukraine.
Bis zum Nachmittag meldete der ukrainische Generalstab mehr als 30 Attacken mit Flugzeugen, Artillerie und Marschflugkörpern. Das russische Militär betonte dagegen, es seien 74 Objekte „außer Gefecht“ gesetzt worden, darunter elf Flugplätze, drei Kommandoposten und ein Marinestützpunkt. Zudem seien Teile der ukrainischen Raketenabwehr zerstört und ein Kampfhubschrauber abgeschossen worden.
Kiew, die Haupstadt der Ukraine, könnte schon bald fallen
Unabhängig überprüfen ließen sich diese Angaben zunächst nicht. Nach übereinstimmenden Berichten von Medien und Augenzeugen sind die russischen Einheiten aber bereits gefährlich nahe an die Hauptstadt Kiew herangerückt, wo viele Menschen am Morgen in U-Bahn-Stationen Zuflucht suchten oder vor den Supermärkten Schlange standen. Am Nachmittag löste die Stadt dann Luftalarm aus. Die Verwaltung rief alle Bürgerinnen und Bürger Kiews auf, sich möglichst in Luftschutzbunkern in Sicherheit zu bringen. Vor den Tankstellen und auf den Autobahnen nach Westen bildeten sich lange Staus.
Nach Angaben der Regierung wurden bereits in den ersten Stunden der russischen Angriffe etwa 40 ukrainische Soldaten und etwa zehn Zivilisten getötet, umgekehrt seien im Osten des Landes Dutzende feindliche Kämpfer getötet worden. Heftige Kämpfe gab es danach unter anderem rund um das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl. Am Abend fiel es nach ukrainischen Angaben an die russischen Truppen.
Putin hat den Einmarsch in die Ukraine offenbar von langer Hand geplant
Noch in der Nacht hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Kriegszustand ausgerufen und alle Freiwilligen an die Waffen gerufen: „Jeder, der Kampferfahrung hat und die Ukraine verteidigen kann und will, soll sich melden.“ Auch die diplomatischen Beziehungen mit Russland brach die Ukraine ab. Kurz vor dem Einmarsch hatte Selenskyj noch versucht, Putin von seinem Vorhaben abzubringen; nach einem Bericht der Deutschen Presseagentur ging Putin allerdings nicht ans Telefon.
Wenig später startete der russische Präsident den offenbar von langer Hand geplanten Angriff mit einer kurzen Erklärung im Fernsehen. „Ich habe beschlossen, eine Sonder-Militäroperation durchzuführen“, sagte Putin. Ihr Ziel sei der Schutz der Menschen in der Ostukraine, die dort seit acht Jahren Misshandlungen und Genozid ausgesetzt seien – einem Völkermord an Russen in der Ukraine. Drohend fügte Putin dann noch hinzu: Russland sei heute „eine der mächtigsten Nuklearmächte der Welt“. Und weiter: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“
Bereits am Montag hatte Putin die von prorussischen Separatisten kontrollierten Regionen Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt und die Entsendung weiterer Soldaten in die Region angeordnet. Insgesamt hat Russland nach westlichen Schätzungen etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen.
Die Nato verstärkt ihre Truppen in den Mitgliedsstaaten Osteuropas
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte den Einmarsch als „vorsätzliche, kaltblütige und von langer Hand geplante Invasion“. Die Nato verstärkt deshalb ihre Bemühungen zur Abschreckung und zur Verteidigung ihrer Mitgliedstaaten in Osteuropa. Dazu verlegt die Bundeswehr unter anderem drei weitere Eurofighter nach Rumänien. Die Kampfflugzeuge starteten noch am Donnerstag vom Fliegerhorst in Neuburg an der Donau. Eine direkte militärische Unterstützung der Ukraine schließt die Nato jedoch aus. „Wir haben keine Nato-Truppen in der Ukraine“, sagte Stoltenberg, „und wir haben auch keine Pläne, Nato-Truppen in die Ukraine zu schicken.“ Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat bereits zugesagt, bei Bedarf weitere Soldaten zur Sicherung der Nato-Ostflanke abzustellen. Waffenlieferungen an die Ukraine schließt die Bundesregierung allerdings weiterhin aus.
Weltweit ist das Entsetzen über Tempo und Dimension des Einmarsches groß. „Die Welt wird Russland zur Rechenschaft ziehen“, sagte US-Präsident Joe Biden – und kündigte neben weiteren Sanktionen die Verlegung zusätzlicher Truppen nach Deutschland an. Auch die EU will den Zugang russischer Banken zu den europäischen Finanzmärkten stoppen. Zudem sollen russische Vermögenswerte eingefroren werden; wichtigen Sektoren der russischen Wirtschaft soll der Zugang zu Schlüsseltechnologien und Märkten verwehrt werden.
Gerhard Schröder appeliert an Putin - und relativiert
Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem „dunklen Tag für Europa“. Am Sonntag will er in einer Sondersitzung des Bundestages eine Regierungserklärung abgeben. „Nun ist das Unfassbare geschehen“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck. CDU-Chef Friedrich Merz sprach von einem „Angriff auf die Demokratie“. Auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, ein enger Freund Putins, forderte den russischen Präsidenten auf, den Krieg schnellstmöglich zu beenden: „Das ist die Verantwortung der russischen Regierung.“ Bei notwendigen Sanktionen dürften die politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Verbindungen zwischen Europa und Russland aber nicht ganz gekappt werden. „Es gab viele Fehler – auf beiden Seiten.“
Das Auswärtige Amt appellierte erneut an alle deutschen Staatsangehörigen in der Ukraine, das Land zu verlassen. Falls jemand das nicht auf einem sicheren Weg tun könne, solle er (oder sie) vorläufig an einem geschützten Ort bleiben. „Eine Evakuierung durch deutsche Behörden ist derzeit nicht möglich.“
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