Ein Terrorakt in dänischen und schwedischen Gewässern. Ein Anschlag auf kritische Infrastruktur der EU. Auf zwei Pipelines, die halb Europa mit Gas versorgen können. Noch dazu auf ein Konsortium, an dem deutsche, französische, niederländische und österreichische Unternehmen beteiligt sind. Schon diese Fakten zeigen, dass sich die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines im September vergangenen Jahres ein echtes Politikum sind. Und genau das macht die jüngsten Enthüllungen zu möglichen Hintergründen des Anschlags so explosiv.
Recherchen amerikanischer und deutscher Medien deuten darauf hin, dass die Spur in die Ukraine führt. In jenes Land, das in seinem Abwehrkampf gegen den russischen Angriffskrieg auf die Hilfe des Westens angewiesen ist und der EU beitreten will. Deutsche Ermittler haben möglicherweise das Schiff aufgespürt, mit dem die Täter den Sprengstoff transportierten. Die Bundesanwaltschaft teilte am Mittwoch mit, dass das verdächtige Schiff bereits im Januar durchsucht worden sei. Die Auswertung der sichergestellten Spuren und Gegenstände dauere an, erklärte eine Sprecherin in Karlsruhe auf Anfrage. "Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen."
Proukrainische Täter unter Verdacht: Von Rostock aus zur Nord-Stream-Pipeline?
Den Medien-Recherchen zufolge hat eine sechsköpfige Kommandogruppe Anfang September in Rostock das gecharterte Schiff bestiegen, um nahe der dänischen Insel Bornholm Sprengstoff an den Nord-Stream-Pipelines anzubringen. Die Fernzündung am 26. September zerstörte drei der vier Gasröhren. Die wichtigsten Indizien: Mieter der Jacht war eine Firma in Polen, die zwei Ukrainern gehört. Die Route des Schiffes führte nachweislich in die Tatortregion. Zudem fanden die Ermittler an Bord Spuren von Sprengstoff. Bei den Personen auf der Jacht soll es sich um zwei Taucher, zwei technische Assistenten, den Kapitän und eine Ärztin gehandelt haben.
Weiter hieß es in den Medienberichten, die Gruppe sei am 6. September 2022 von Rostock aus in See gestochen. Die Ausrüstung sei vorher mit einem Lieferwagen in den Hafen transportiert worden. Den Ermittlern sei es gelungen, das Boot am folgenden Tag erneut in Wieck am Darß im Landkreis Vorpommern-Rügen und später an der dänischen Insel Christiansö, nordöstlich von Bornholm, zu lokalisieren. Im Anschluss an die Operation sei die Jacht ungereinigt zurückgegeben worden.
Allerdings gibt es auch Zweifel an den Schlussfolgerungen: So ist die Identität der Beteiligten nicht geklärt. Sie sollen professionell gefälschte Ausweise benutzt haben. Westliche Geheimdienste sprechen den Berichten zufolge von einer „proukrainischen Gruppe“. Darauf deuteten auch gespeicherte Inhalte elektronischer Kommunikation hin. Allerdings sei eine Operation unter falscher Flagge nicht auszuschließen. Bei solchen „False flag“-Aktionen hinterlassen Täter bewusst Spuren, die in die Irre führen.
Sabotage-Vorwurf: Kiew weist mögliche Verantwortung zu Nord-Stream-Sprengung von sich
Auch die übrigen veröffentlichten Informationen werfen Fragen auf: Woher hatte die mutmaßliche Tätergruppe den Sprengstoff? Früheren Berichten zufolge gehen die Ermittler davon aus, dass Material in militärischer Qualität und mit einer Explosivkraft von 500 Kilogramm TNT zum Einsatz kam. Um eine solche Menge Sprengstoff zu verbringen, bräuchten die Taucher eine Spezialausbildung. Wäre eine nicht staatliche Kommandogruppe dazu in der Lage? Und wer sonst könnte den Auftrag erteilt haben?
Fachleute hatten nach den Anschlägen früh erklärt, dass angesichts der Komplexität der Tat nur ein staatlicher Akteur als Verursacher der Explosionen infrage komme. Die nun durchgestochenen Ermittlungsergebnisse weisen jedoch auf eine zumindest in Teilen amateurhafte Aktion hin. So wurde die benutzte Jacht nicht ausreichend gereinigt, um Sprengstoffspuren zu entfernen.
Die Regierung in Kiew schließt eine Beteiligung eigener staatlicher Stellen aus. Michailo Podoljak, enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, schrieb bei Twitter: „Die Ukraine hat nichts mit dem Vorfall in der Ostsee zu tun und auch keine Informationen über proukrainische Sabotagegruppen.“ Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius wollte am Mittwoch ebenfalls nichts von einer heißen Spur nach Kiew wissen: „Wir müssen jetzt mal abwarten, was sich davon wirklich bestätigt“, sagte er am Rande eines EU-Treffens in Stockholm. Pistorius betonte in dem Deutschlandfunk-Interview, dass die Wahrscheinlichkeit einer „False-flag"-Aktion und einer proukrainischen Täterschaft „gleichermaßen hoch“ sei.
Dennoch werden sich die westlichen Verbündeten der Ukraine auf alle Szenarien einstellen müssen. Denn sollte sich die aktuelle Spur als belastbar erweisen, wäre das eine schwere Hypothek für die Kriegsallianz gegen Russland. Kremlsprecher Dmitri Peskow nannte die jüngsten Berichte ein „koordiniertes Ablenkungsmanöver“. Die russische Führung geht von „Staatsterror“ aus, verübt von britischen oder amerikanischen Einsatzkräften.