Cherson, war da was? Das russische Staatsfernsehen ist schmallippig, wenn es um den Rückzug der russischen Streitkräfte aus der einzigen Gebietshauptstadt der Ukraine geht, die sie seit Februar überhaupt erobert hatten. Der Abzug vom wichtigen Brückenkopf in der Südostukraine ist nicht die Hauptnachricht in den Nachrichtensendungen. Fast schon beiläufig erscheinen da die Berichte über den "glatten Rückzug", stets mit dem Zusatz, Cherson sei laut russischer Verfassung russisch. Auch der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow meint, "gesetzlich" sei ja "alles definiert".
Nach Fake-Referenden hatte der russische Präsident Wladimir Putin Cherson und drei weitere ukrainische Regionen im Oktober zu Subjekten der Russischen Föderation erklärt. Die jüngste Niederlage aber lässt er lieber andere verkünden: In einem inszenierten Fernsehauftritt erklärt Sergej Surowikin, der Kommandeur der russischen Armee in der Ukraine, dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, die Lage am rechten Ufer des Flusses Dnipro sei "aussichtslos". Bereits bei seiner Ernennung vor einem Monat hatte Surowikin davon gesprochen, "schwierigste Entscheidungen" nicht auszuschließen.
Der russische Rückzug aus Cherson war lange vorbereitet worden
Armee wie Bevölkerung in Russland waren so auf den Rückzug vorbereitet worden, zumal Truppen und Befehlsstäbe tagelang verlegt und Menschen, die Besatzungsverwaltung, Museen, Archive und selbst der Zoo ans linke Dnipro-Ufer evakuiert worden waren. Das Bezahlen in der ukrainischen Währung Hrywnja kehrte zurück. Es war kein plötzlicher Abgang wie vor einigen Wochen in Charkiw. So fiel auch die Reaktion gedämpfter aus als nach der dortigen russischen Niederlage. Selbst die Militärblogger reagierten eher enttäuscht als wütend.
Die Propagandisten stricken derweil an der Legende, der Rückzug sei eine militärische Notwendigkeit, um Menschenleben zu retten. "Es war eine schwierige, aber eine richtige Entscheidung", sagt Dmitri Kisseljow, der Leiter der staatsnahen russischen Medienholding Rossija Segodnja, in seinem Wochenrückblick "Westi Nedeli" am Sonntag. "Das Nazi-Regime in der Ukraine rührt sich noch, aber unsere Methoden, das Land im Dunkeln zu lassen, funktioniert. Die Zeit spielt für uns", sagt er gewohnt zynisch und lässt Bilder aus dem abendlichen Kiew einblenden, das nicht beleuchtet ist. Sein grobschlächtiger Propaganda-Kollege Wladimir Solowjow wiederholt in seiner Abendsendung bei Rossija 1 die Worte von einer "schwierigen Prüfung in diesem Krieg des Westens gegen Russland".
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kommt nach Cherson
Nach der Behebung von Fehlern, meint er, werde Russland nach Cherson zurückkehren - "und nicht nur dorthin" – "um unsere historische Mission zu erfüllen und die Ukraine zu befreien". Es ist die gewohnte Realitätsverweigerung, getränkt mit Menschenverachtung. "Wir werden mit ihnen bis zum letzten Geschoss kämpfen und ich hoffe, dass uns diese Geschosse nie ausgehen", raunt die RT-Chefin Margarita Simonjan bei Solowjow.
In Cherson zeigte sich indessen am Montag der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er wolle den Menschen in Cherson mit seiner Anwesenheit seine persönliche Unterstützung ausdrücken, sagte er am Montag vor Journalisten. "Damit sie spüren, dass wir nicht nur davon reden, nicht nur versprechen, sondern real zurückkehren, unsere Flagge hissen." Außerdem wolle er selbst die Emotionen und die Energie seiner Landsleute spüren, betonte der 44-Jährige. "Das motiviert auch sehr." Ukrainischen Angaben nach sind noch etwa 80.000 von ehemals rund 280.000 Menschen in der Stadt geblieben. (mit dpa)