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Krieg in der Ukraine: Mit 19 Jahren im Krieg: Wie wird man dieses Trauma wieder los?

Richtschütze Roman ist erst 19 Jahre alt. Todesgefahr hat er wiederholt erleben müssen.
Krieg in der Ukraine

Mit 19 Jahren im Krieg: Wie wird man dieses Trauma wieder los?

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    „Nelke“ hieß die Selbstfahrlafette 2S-1 in der Sowjetunion. Doch die vier ukrainischen Soldaten in der Panzerhaubitze irgendwo an der Front von Bachmut schicken keine Blumengrüße. Drohnen haben eine neue Stellung der russischen Armee ausgemacht. Die Feuerleitstelle gibt die Koordinaten durch. Der 300-PS-Dieselmotor heult auf, das olivfarbene Ungetüm rollt mit rasselnder Kette ein Stück unter dem Tarnnetzdach hervor. Dann surrt es, das Geschützrohr fährt nach oben. Im Körper des Mehrtonners schiebt Ladeschütze Andrii die Munition in die 122-Millimeter-Bordhaubitze ein. Sein Kamerad Roman richtet das Geschütz aus. Dann kracht der Schuss. Braaaaammmmm. Das Rohr spuckt Feuer und dann Rauch.

    Als der sich schon lange verzogen hat, wartet die vierköpfige Crew auf die Rückmeldung von der Feuerleitstelle. Kleine Korrekturen, der zweite Schuss fährt in den Himmel. Er zerreißt noch einmal die Stille über Feldern, zerbombten Häusern und kleinen Waldstücken. Nichts Ungewöhnliches, für längere Zeit ist es hier eher selten ruhig. Im Grün drumherum erzählen unzählige Krater von den schweren Kämpfen. Immer wieder hört man den scharfen Knall, wenn die Ukrainer ihre Haubitzen abfeuern. Die dumpfen Schläge der eingehenden russischen Geschosse, wenn sie in der Ferne explodieren. Ihr Pfeifen und den lauten Knall, wenn sie näher herunterkommen.

    Auf der ukrainischen und russischen Seite sind die Verluste hoch

    Irgendwo, einige Kilometer entfernt, schlägt jetzt die Granate der 2S-1 ein. Ein Treffer wird gemeldet. Vermutlich sterben in diesem Augenblick russische Soldaten oder werden schwer verwundet. Neue Namen auf der mittlerweile schier endlosen Liste der Gefallenen. Seit dem Sommer 2022 lässt Russland seine Kämpfer auf Bachmut stürmen. Es sind hauptsächlich Wagner-Söldner, die erbarmungslos von der eigenen Führung in das Gefecht getrieben werden. Mittlerweile dürften es Zehntausende sein, die ums Leben gekommen sind.

    Doch auch auf ukrainischer Seite sind die Verluste hoch. In den sozialen Medien trauern die Soldatinnen und Soldaten um die Gefallenen. Die Grausamkeit des Krieges spiegelt sich auch in Berichten wie jenen aus dieser Woche wider, wonach ein Internet-Video angeblich die Enthauptung eines ukrainischen Soldaten zeigt. Bestätigt ist die Echtheit der Bilder bislang nicht. Das Entsetzen in Kiew und im Westen ist jedenfalls groß. Die Bachmut-Front ist zum Sinnbild für das Sterben in dem russischen Angriffskrieg auf das ungleich kleinere Nachbarland geworden. In ukrainischen Pop-Songs werden die Verteidiger besungen. Für beide Seiten besitzt der Ort hohe Symbolkraft.

    Bachmut scheint nach monatelangen Artilleriegefechten und Straßenkämpfen in Teilen unter russischer Kontrolle zu sein. Die Invasoren haben die Stadt von drei Seiten umschlossen. Erobert haben sie Bachmut nicht. Die russischen Kräfte mussten für die mühsamen Geländegewinne offensichtlich einen hohen Preis bezahlen. Die Winteroffensive Russlands gilt als weitgehend gescheitert, heißt es unter anderem in den regelmäßigen Lageberichten, die die britischen Geheimdienste veröffentlichen. Mittlerweile ziehen die Aggressoren an anderen Stellen ihre Truppen zusammen. Vor der Frontstadt Awdijiwka zum Beispiel. Alle warten auf den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive, die jetzt im Frühjahr erwartet wird.

    Hier in Bachmut kann jederzeit eine Granate einschlagen

    Die Crew der 2S-1 muss sich nach ihren beiden Schüssen beeilen. Die Lafette ächzt mit heulendem Motor zurück unter das Tarnnetz. Roman und Andrii sorgen dafür, dass die Tarnung wieder über den Stahlkoloss fällt. Alles geht schnell, jeder Handgriff sitzt. Dann springen sie auf die Wiese. Mit eiligen Schritten geht es zum nahen Erdbunker. Die Antwort des Feindes kann schnell kommen. Oder zumindest kann eine russische Aufklärungsdrohne gefährliches Bildmaterial produzieren. Das heißt: verborgen im Unterstand warten. Unter der Erde spendet eine LED-Leuchte dämmriges Licht. Sperrholzblatten, Bretter und schwere Stämme sichern das Innere des Bunkers. An einer Wand hängt eine ukrainische Fahne.

    Ladeschütze Andrii beim Einsatz in der "Nelke".
    Ladeschütze Andrii beim Einsatz in der "Nelke". Foto: Till Mayer

    „Man muss immer auf alles gefasst sein. Jederzeit kann eine Granate einschlagen. Der Tod kann schnell zuschlagen. Er macht es immer wieder. Wir haben gute Leute verloren“, sagt Gennadiy, der Kommandant der Panzerfahrlafette. Mit seinen 36 Jahren ist er der erfahrene Ruhepol in seiner kleinen Mannschaft. Gennadiy diente schon vor der Invasion an der Frontlinie im Donbas. Erfahrung konnten in weit über einem Jahr Krieg auch Andrii und Roman sammeln. „Seit der Invasion sind wir im Einsatz. Wir haben schon einiges erlebt“, sagt Roman, der kurz vor dem großen Krieg als Zeitsoldat bei der Armee anheuerte. Jetzt steht er im Halbdunkel des Unterstands, raucht eine E-Zigarette und lauscht, ob Einschläge zu hören sind. „Das Schlimmste, was ich in dem Krieg erlebt habe, das war vergangenes Jahr. Gleich zu Beginn der Invasion, wir waren im Süden an der Front in Einsatz. Nahe einem Ort namens 1. Mai“, berichtet er. „Das werde ich nie vergessen“, so der 19-Jährige weiter.

    Seine beiden Kameraden nicken. „Sie haben uns regelrecht mit Granaten eingedeckt. Vorne, hinten, links und rechts. Überall ging es runter. Einschlag nach Einschlag. Sie wollten konkret uns zerstören. Wir haben alles aus unserer 2S-1 herausgeholt, um dem Beschuss zu entkommen“, erzählt der junge Soldat. Sein Kommandant nimmt den Faden auf: „Wir wollten bloß noch weg. Es war chancenlos, die Stellung zu halten. Sie haben uns dann regelrecht gejagt.“

    Eine Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland – das wäre ihr Ding

    Die Crew schaffte es, mit ihrer Lafette in Sicherheit zu kommen. Aber es war schwer, dann Ruhe zu finden. Nachdem sie in Sicherheit waren, der Adrenalin-Schub nachließ. „Zuvor haben wir funktioniert. Plötzlich musste ich mich auf jeden Handgriff konzentrieren. Gott, die Hände haben gezittert. Ich musste langsam wieder die Kontrolle über mich gewinnen“, meint der Kommandant mit einem traurigen Lachen. „Jeder, der an der Front kämpft, hat seine Erlebnisse, die ihn nicht loslassen. Kameraden, die er verliert. Die Erinnerungen daran werden nicht mit dem Krieg enden“, erklärt Gennadiy.

    Roman hört seinem Kommandanten zu, dann überlegt er kurz: „Zu Hause wohne ich nahe einem Flugplatz. Das kann nach dem Krieg ein Problem werden. Höre ich Flugzeuge und Hubschrauber, schlägt mein Herz schneller.“

    Für die Sorgen von Andrii (links) und Roman (rechts) hat Offizierin Anastasia ein offenes Ohr.
    Für die Sorgen von Andrii (links) und Roman (rechts) hat Offizierin Anastasia ein offenes Ohr. Foto: Till Mayer

    Roman und Andrii erzählen lieber davon, dass eine Panzerhaubitze 2000 aus Deutschland genau ihr Ding wäre. Als davon, wie ihnen der Krieg ins Herz greift. "Wir haben uns als Kameraden, das hilft", sagen die beiden kurz. Dann geht es zur Panzerhaubitze 2000 aus deutscher Produktion: „Schnell, präzise, extrem hohe Reichweite und gute Panzerung. Das Geschütz kann mehrere Geschosse abfeuern, die gleichzeitig im Ziel einschlagen. Das ist schon etwas ganz anderes als unsere 2S-1. Wir bräuchten für die Offensive mehr davon. Dann wäre der Krieg schneller vorbei. Eine höhere Reichweite würde uns jetzt vor der russischen Artillerie schützen“, erklärt Andrii. 

    Eine Offizierin ist für mentale Gesundheit in der Truppe zuständig

    Roman sieht das genauso. Beide wissen, dass ihr Einsatz bei Erfolg für den Feind tödlich ist. „Es ist einfach so. Die Russen sind in unser Land gekommen, um uns zu töten. Es war nicht andersherum. Wir verteidigen uns. Deswegen muss unsere Arbeit gut sein. Treffen wir das Ziel, freuen wir uns. Nicht, weil Menschen sterben. Sondern, weil wir nur so den Krieg gewinnen können“, sagt Andrii.

    Die Russen scheinen Munition sparen zu wollen. Noch immer gibt es keine Einschläge im Umfeld. Darüber ist Anastasia erleichtert. Sie ist als Offizierin für mentale Gesundheit in der Truppe zuständig und gerade in der Stellung auf Visite. „Seit 24. Februar 2022 ist unsere Truppe hier im Einsatz. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind oft schwerstem Stress ausgesetzt. Ich versuche, sie zu unterstützen. Und auch ihre Familien“, erklärt die 23-Jährige. Zuhören, wenn Soldaten von traumatischen Erlebnissen erzählen. Ihren Familien erklären, warum sich plötzlich der Freund oder Ehemann so einsilbig bei Gesprächen verhält. Warum ein lebensfroher Mensch fast verstummt.

    „Ich kann Verständnis wecken, versuchen, Mut zu geben. Aber ich muss mir dabei auch meiner eigenen Grenzen bewusst sein“, sagt Anastasia, die bei ihrer Ausbildung an der Militärakademie mit eigenen Kursen für diese Aufgabe vorbereitet wurde. Es hat einen Suizid gegeben, berichtet sie. „Zuerst hatte ich Schuldgefühle, dass ich ihn nicht verhindern konnte. Dann musste ich einfach erkennen, ich kann nicht überall sein. So ist eben der Krieg“, sagt sie. Und hat kurz Tränen in den Augen.

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