Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt sich alle Mühe, seinen Landsleuten die Niederlage im östlichen Gebiet Luhansk als Vorzeichen eines bevorstehenden Sieges zu verkaufen.
"Wenn das Kommando unserer Armee Menschen von bestimmten Punkten der Front abzieht, wo der Feind den größten Feuervorteil hat (...), bedeutet das nur eins: Dass wir dank unserer Taktik, dank der verstärkten Versorgung mit modernen Waffen zurückkommen werden", sagte er am Wochenende. Kurz zuvor ist bekannt geworden, dass seine Armee die strategisch wichtige Stadt Lyssytschansk nach wochenlangen Kämpfen an die russischen Angreifer verloren hat.
Die Niederlage in Lyssytschansk bedeutet für die Ukrainer faktisch den Verlust des gesamten Gebiets Luhansk. Aus Moskauer Sicht ist damit nach mehr als vier Monaten ein zentrales Kriegsziel erreicht. Das Luhansker Verwaltungszentrum Sjewjerodonezk ist bereits vor anderthalb Wochen gefallen. Vereinzelte Kämpfe gibt es ukrainischen Angaben zufolge nun nur noch nahe Lyssytschansk im Dorf Bilohoriwka am Fluss Siwerskyj Donez.
90 Prozent der Infrastruktur beschädigt
Die vergangenen Wochen haben Tod und Zerstörung über Luhansk gebracht. Gouverneur Serhij Hajdaj zufolge sind 90 Prozent der Infrastruktur beschädigt, 60 Prozent der Wohnhäuser zerstört. In Lyssytschansk sind demnach von einst mehr als 100.000 Einwohnern nur noch rund ein Zehntel übrig. Viele sind auf der Flucht.
In Moskau feiert man den Angriffskrieg derweil einmal mehr als angebliche Friedensmission, um das Nachbarland von Nationalisten zu "säubern". Margarita Simonjan, Chefredakteurin des staatlichen Fernsehsenders RT, schlägt gar vor, die "Befreiung" größerer Ortschaften mit landesweiten Feuerwerken zu feiern. "Das ist doch eine schöne Tradition."
Dass die Ukraine Lyssytschansk aufgeben musste, sei schmerzlich, aber im militärischen Sinne folgerichtig, sagen westliche Experten. Angesichts der deutlichen Überlegenheit Russlands habe die ukrainische Armee so verhindert, dass sie eingekreist wird, sagt der ehemalige Nato-General Hans-Lothar Domröse am Montag der Deutschen Presse-Agentur. "Dem sind sie durch die schnelle und taktisch sinnvolle, handwerklich gute Verzögerungsoperation zuvorgekommen. Und deswegen mussten die auch raus. Sonst würden sie wie in der Fabrik in Mariupol einfach verhungern", sagt er.
Kreml will auch Donezk unter seine Kontrolle bringen
"Russland ist deutlich überlegen", sagt der General a.D. Es gehe für die Ukrainer darum, "militärisch kunstvoll, geschickt zu verzögern, dem Angreifer Schaden zuzufügen", so Domröse. "Sie haben offensichtlich schwere Waffen unbeschadet rausgekriegt, vielleicht auch noch Zivilbevölkerung."
Für Russland wiederum ist der Krieg mit den Eroberungen in Luhansk alles andere als vorbei. Der Kreml will auch das Nachbargiebt Donezk unter seine Kontrolle bringen. Und so erklärt dann auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Montag im Rahmen eines Rapports vor Präsident Wladimir Putin: "Die Streitkräfte der Russischen Föderation setzen die militärische Spezial-Operation fort." Noch kontrolliert die ukrainische Armee weite Teile von Donezk, das der Kreml - ebenso wie Luhansk - bereits unter internationalem Protest als unabhängigen Staat anerkannt hat.
Doch die Russen peilen dort bereits das nächste strategische Ziel an: den Ballungsraum zwischen Slowjansk und Kramatorsk. Die feindlichen Truppen hätten von Osten her bereits den Siwerskyj Donez überquert, heißt es vom ukrainischen Generalstab.
Am rechten Ufer des Flusses, der in der Region in einem Bogen verläuft, haben die Russen einige neue Brückenköpfe erobern können - und stellen deshalb für den Ballungsraum Slowjansk-Kramatorsk eine Gefahr dar. Sowohl von Norden als auch von Osten aus gibt es nun keine natürlichen Hindernisse mehr für einen russischen Vormarsch auf das strategisch wichtige Industriegebiet, in dem vor dem Krieg gut eine halbe Million Menschen lebte.
Ukraine hofft auf weitere Waffenlieferungen
Das alles jedoch bedeutet keinesfalls, dass die Schlacht um den Donbass für Moskau bereits gewonnen ist. Zum einen sind die militärischen Kapazitäten der Russen begrenzt und die verbündeten ostukrainischen Separatisten von den langen Kämpfen teils ausgelaugt. Zum anderen haben die Ukrainer den Raum um Slowjansk und Kramatorsk zu einer regelrechten Festung ausgebaut. Sie hoffen nun auf westliche Waffenlieferungen, um Offensiven starten zu können.
Dass die bisher gelieferten westlichen Waffen schon die militärischen Kräfteverhältnisse änderten, gar ein "game changer" seien, könne man noch nicht sehen, sagt General Domröse. Gebraucht würden schwere Waffen, Schützenpanzer und Panzer allgemein, um sich jetzt in der Verzögerung von Ort zu Ort zu bewegen, ohne Verluste hinzunehmen.
Kremlchef Putin jedenfalls will einigen seiner Soldaten erst einmal eine kleine Auszeit gönnen. Diejenigen, die erfolgreich um Luhansk gekämpft hätten, sollten sich nun etwas "ausruhen" und Kräfte sammeln für bevorstehende Kämpfe. Andere Einheiten wiederum sollten ihre "Aufgaben" weiter erfüllen, sagt Putin zu Verteidigungsminister Schoigu - in der Hoffnung, dass "in ihren Richtungen alles so ablaufen wird wie in Luhansk".
(Von Andreas Stein, Carsten Hoffmann und Hannah Wagner, dpa)