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Krieg in der Ukraine: Lässt Deutschland in Russland politisch Verfolgte im Stich?

Krieg in der Ukraine

Lässt Deutschland in Russland politisch Verfolgte im Stich?

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    Politische Eiszeit: eine Demonstrantin 2021 bei Protesten gegen die Verhaftung von Oppositionellen.
    Politische Eiszeit: eine Demonstrantin 2021 bei Protesten gegen die Verhaftung von Oppositionellen. Foto: Sergei Mikhailichenko, dpa

    Kaum ein Satz wurde in den letzten Tagen öfter zitiert, als die Aussage der estnischen Ministerpräsidentin Kaja Kallas auf Twitter: „Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht.“ Tatsächlich setzte sich eine Phalanx aus baltischen, skandinavischen und einigen weiteren osteuropäischen Ländern insofern durch, als dass die Erteilung von Touristenvisa an Russinnen und Russen deutlich erschwert wird. Deutschland und Frankreich ist es zwar gelungen, ein komplettes Einreiseverbot zu verhindern. Viel zu kurz aber kam die Frage, wie es möglich sein könnte, politisch Verfolgte aus Russland besser zu schützen.

    Allzu leicht wird vergessen, dass längst nicht alle Russen den von Präsident Wladimir Putin vom Zaun gebrochenen Krieg rückhaltlos unterstützen. Nach einer Umfrage, die der Kreml beim Meinungsforschungsinstitut WZIOM in Auftrag gegeben hatte, sind immerhin 30 Prozent der Bürgerinnen und Bürger strikt gegen den Ukrainekrieg, weitere zumindest unentschieden. Ein Ergebnis, das eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber durchgestochen wurde. Gerade in den Großstädten wie Moskau oder Petersburg leben viele Putin-Kritiker. Oft junge Russen, die die gleichgeschalteten staatlichen Medien nicht mehr konsumieren, sondern versuchen, über das Internet an Informationen zu gelangen.

    Oppositionelle fürchten um ihre Freiheit, ja sogar um ihr Leben

    Gegner des Regimes verfolgen mit großer Sorge, dass es immer schwerer wird, das Land zu verlassen. Oppositionelle Kräfte fürchten um ihre Freiheit, ja sogar um ihr Leben. Unserer Redaktion liegt ein Brief des Präsidenten der russischen Hans-Waltz-Stiftung (Walz Foundation), Aleksandr Zabara, an die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor.

    Zabara schildert darin in dramatischen Worten die verzweifelte Lage vieler Kreml-Gegner und appelliert dringend an Deutschland, die Aufnahmeverfahren für politisch Verfolgte umgehend zu vereinfachen und zu beschleunigen, anstatt auf „Massenrepressionen und Ausreiseverbote“ zu warten. Der Zustand des „Justiz- und Strafverfolgungssystems“ habe sich in den letzten Jahren „kontinuierlich und rapide verschlechtert“, mit dem Beginn der „Besetzung der Ukraine“ sei die Situation „völlig außer Kontrolle geraten“, schreibt Zabara, der trotz möglicher persönlicher Konsequenzen ausdrücklich mit seinem vollen Namen genannt werden will.

    Die Waltz-Stiftung war zur Unterstützung von Menschen gegründet worden, die als Kinder in deutschen Konzentrationslagern lebten. Nun kümmert sie sich auch um politisch Verfolgte in Russland. Eine Tätigkeit, die natürlich den Argwohn der Machthaber weckt.

    Nach einiger Zeit antwortete das Bundesinnenministerium auf den Brief, der auch an verschiedene Politiker weitergeleitet worden war. Das Ministerium versichert, dass „ein tragfähiges Verfahren“ für die „schnelle und unbürokratische Aufnahme“ geschaffen worden sei. Genau daran zweifelt allerdings der Slawist Thomas Hacker aus Neusäß (Landkreis Augsburg), der Zabara bei der Übersetzung und Weiterleitung des Briefes an Ministerin Nancy Faeser unterstützt hat. Auch Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung haben ergeben, dass die Hürden zur Erlangung eines sogenannten „humanitären Visums“ hoch sind.

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sicherte "schnelle und unbürokratische Aufnahme" von  Verfolgten zu.
    Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sicherte "schnelle und unbürokratische Aufnahme" von Verfolgten zu. Foto: Wolfgang Kumm, dpa

    Das Bundesinnenministerium stellte unserer Redaktion dazu auf Anfrage folgende Zahlen – Stand Ende vergangener Woche – zur Verfügung: Insgesamt 241 russischen Staatsangehörigen wurde seit Beginn des Krieges eine Aufnahme auf Grundlage von Paragraf 22 Absatz 2 des Aufenthaltsgesetzes gewährt. 144 davon „individuell gefährdete (oppositionelle) Personen sowie 97 Familienangehörige“. Allzu viele sind es also nicht, für die sich dieser Weg aus dem Land heraus geöffnet hat. Darüber, wie viele Anträge auf ein humanitäres Visum abgelehnt wurden, liegen offensichtlich keine Zahlen vor.

    Viele sitzen in Georgien oder Armenien fest

    Als sicher gelten kann, dass für viele Russen die Hoffnung, das Land schnell zu verlassen, nicht in Erfüllung gegangen ist. Viele Oppositionelle sitzen beispielsweise in Georgien oder Armenien fest. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten, überhaupt Termine in den deutschen Botschaften oder Konsulaten, für die das Auswärtige Amt zuständig ist, zu bekommen. Immer wieder ist auch zu hören, dass diese Einrichtungen zum Teil hoffnungslos überlastet sind. Umso wichtiger wäre es, das Personal in der aktuellen Notlage dort deutlich aufzustocken. Häufig, so ist zu hören, werden die Belege für eine Verfolgung nicht akzeptiert. Ein Grundproblem ist zudem, dass nur rund 30 Prozent der russischen Bürger über Reisepässe verfügen.

    Einiges deutete zudem darauf hin, dass es auch bei der Abstimmung zwischen dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt hakt. Letzteres hat eine Anfrage unserer Redaktion bisher nicht beantwortet.

    Der Ablauf ist eigentlich klar geregelt

    Eigentlich ist der Ablauf klar geregelt: Das Innenministerium kann nach einer Sicherheitsüberprüfung des Antragstellers eine Aufnahmezusage aussprechen. Dann ist die jeweilige deutsche Botschaft am Zug, die für die Ausgabe eines nationalen Visums für Deutschland zuständig ist. Doch genau dieser Weg erweist sich als schwierig.

    Dabei sind die Vorgaben für die Vergabe humanitärer Visa, auf die sich die Bundesregierung verständigt hat, recht umfangreich. „Besonders gefährdeten Personengruppen aus Russland wie Journalistinnen und Journalisten, aber auch Menschenrechtsaktivistinnen und Menschenrechtsaktivisten, die aufgrund ihres Einsatzes für Menschenrechte und gegen den Krieg besonders gefährdet sind“, soll mit dem speziellen Visum geholfen werden. Auf dieser Basis könne „ein längerfristiger Aufenthalt in Deutschland ermöglicht werden“.

    Der russische Präsident Wladimir Putin dürfte an der Debatte um Visa. seine Freude haben.
    Der russische Präsident Wladimir Putin dürfte an der Debatte um Visa. seine Freude haben. Foto: Sergei Bobylev, Pool Tass Host, AP, dpa

    Gerade angesichts der angekündigten und zum Teil bereits umgesetzten deutlich restriktiveren Praxis bei der Erteilung von Touristen-Visa für Russen für die Einreise in EU-Länder setzen viele Kritiker des Regimes ihre Hoffnungen auf ein humanitäres Visum – oft allerdings vergeblich. So erhält Wladimir Putin eine Möglichkeit serviert, den Eindruck zu erwecken, dass der Westen sich gegen Russland aus „verblendeter Russophobie“ umfassend abschottet – ein billiger Propagandaerfolg für den Machthaber und eine existenzbedrohende Entwicklung für politisch Verfolgte.

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