Svitlana hat Kuchen mit Zuckerguss gekauft. Dabei schmeckt das Gebäck zu süß für die bittere Geschichte, die sie zu erzählen hat. Svitlana sitzt am Tisch in ihrer schlichten Küche in einem Hochhaus in den Außenbezirken von Kiew. Die 36-Jährige trägt Schwarz. Nebenan, im Wohnzimmer, hängen die Fotos ihres Mannes. Er trägt Uniform und blickt ernst auf dem Bild. Neben einem der Rahmen liegt ein Orden. Daneben die Stofftiere von Tochter Polina. Ein schmerzhafter Hintergrund für die Fotos eines Toten.
Der russische Großangriff auf die Ukraine dauerte gerade einmal seit 50 Tagen an, als Volodymyr, Svitlanas Mann, fiel. „Er diente als Grenzschützer, 2014 hatte er schon im Donbas gekämpft“, sagt Svitlana am Küchentisch. Als ihr Mann ums Leben kommt, erlebt Svitlana schon seit Wochen einen Albtraum. Zu Hause ist sie in einem kleinen Grenzort im Oblast Luhansk, ganz im Osten des Landes, der schon im März 2022 von russischen Truppen eingenommen wird. „Sie wussten, dass mein Mann Grenzschützer war“, sagt sie.
„Das gehört doch Papa, lasst es liegen“, rief die kleine Polina
Bald kommt die erste Hausdurchsuchung. „Sie haben alles von unten nach oben gedreht. Ich weiß nicht, was sie gesucht haben. Mein Mann war Unteroffizier, kein hoher Militär“, erklärt Svitlana. Sie finden das grüne Barett von Volodymyr. „Meine kleine Polina war da gerade vier Jahre alt. 'Das gehört doch Papa, lasst es liegen', hat sie gerufen“, erinnert sich Svitlana. Die russischen Soldaten schieben das Kind beiseite. Tragen alles zusammen, was Bezug zur Ukraine hat. Bücher in ukrainischer Sprache, eine Fahne, Bilder, das Barett, Uniformteile. „Dann haben sie es vor dem Haus angezündet“, erzählt Svitlana. Die Nachbarn sahen zu. 20 Gaffer standen herum. „Einer von Ihnen kam dann auf mich zu, schlug meinen Kopf gegen eine Wand. Beschimpfte mich als Nazi.“
Dreimal in der Woche wird Svitlana von den russischen Besatzern abgeholt und zum örtlichen Hauptquartier gebracht. Woche für Woche geschieht das. Es folgen sinnlose Befragungen und dann Schläge, Tritte, Misshandlungen, Demütigungen. „Sie haben alles mit mir gemacht, was noch keine Vergewaltigung ist.“ Im Ort steht ihr niemand bei. Svitlana züchtete Blumen und verkaufte sie. Ihre ehemaligen Kunden, die einst ihre Blumenbouquets lobten, sie schweigen. „Vermutlich hatten sie Angst, dass sie dann mit den Russen Probleme bekommen. Andere fanden sich schnell in ihre Rolle als Kollaborateure“, fügt sie hinzu.
Svitlana will von ihrem Mann Abschied nehmen, doch die Besatzer lassen sie nicht
Vom Tod ihres Mannes erfährt sie durch einen Anruf von dessen Kommandanten. Für Svitlana bricht endgültig eine Welt zusammen. „Er wird in Dnipro beigesetzt“, sagt der ukrainische Offizier.
Die Ehefrau will Abschied von ihrem Mann nehmen. Die russischen Besatzer erlauben ihr die Ausreise aus dem Ort nicht. Zwei Tage später holen sie sie wieder ab. „Es war ein junger Soldat dabei. Er klingelte an meiner Türe. Er konnte mir nicht in die Augen sehen“, erzählt Svitlana. Sie weiß es noch genau. Wie der junge Soldat „Mein Beileid“ stammelte. Wie er dann zum Wagen zurückging und sie ihn weinen sah. „Seine Kameraden waren aus einem anderen Holz“, sagt die 36-Jährige. „Sie haben mich dann geholt. Ich wurde dann misshandelt wie immer.“
Svitlana findet die Kraft nicht, der Tochter vom Tod ihres Vaters zu erzählen. Ihr Sohn Igor hört das Gespräch mit dem Kommandanten seines Vaters. Seine Mutter bittet ihn, seiner Schwester nichts zu erzählen. Polina erfährt erst Monate später, dass ihr Vater tot ist.
Wie viele Soldatenleben dieser Krieg gefordert hat, wie viele Kinder ihren Vater, wie viele Frauen ihren Mann verloren haben, das weiß man nicht. Klar ist nur: Die Verluste sind auf beiden Seiten hoch. Und viele der Soldaten, die nach wie vor kämpfen, sind völlig erschöpft.
Die ukrainische Armee hat nach den Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj um die Mobilisierung von Hunderttausenden Ukrainern gebeten. Von 450.000 bis 500.000 neuen Kräften für den Kampf gegen Russland ist die Rede. Die Mobilisierung, das ist dem Präsidenten klar, ist eine heikle Sache. Derzeit dienen rund 820.000 Ukrainer in den Streitkräften, viele sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs vor rund 22 Monaten größtenteils ohne Ablösung im Einsatz. Anfang Dezember hat Selenskyj eine Reform der Einberufungsgesetze in Aussicht – eine Ankündigung, die als Zugeständnis gewertet wird.
Am Küchentisch in dem Hochhaus in Kiew erzählt Svitlana von den Misshandlungen durch die russischen Soldaten und dem Gefühl, dass sie all das nicht mehr lange erträgt. „Zudem hat nichts geklappt unter der Besatzung. An allen Ecken standen Soldaten, aber Brot gab es keines im Laden.“ Sie verkauft ein Auto – deutlich unter Wert. Mit dem Geld bezahlt sie Schlepper aus dem Ort. Sie versprechen ihr, sie durch die russischen Check-Points bis nahe zur ukrainisch gehaltenen Seite zu bringen. „Die letzten Kilometer mussten wir dann laufen. Zwei Koffer schleppte ich mit. Unser ganzes altes Leben war darin verstaut.“
Es ist Sommer, als Svitlana mit ihren beiden Kindern am Grab von Volodymyr steht. Sie nehmen an seinem Soldatengrab Abschied. Neben dem Holzkreuz weht die ukrainische Flagge. Es sind so viele Flaggen, die hier wehen. Jede Fahne im Wind bedeutet einen Gefallenen, meist eine Witwe wie Svitlana und Halbwaisen wie Igor und Polina.
Ein Kamerad ihres Mannes rät ihr, nach Kiew zu kommen. Monatelang ist ihr Zuhause ein Zimmer in einer Einrichtung für Menschen mit Autismus. „Wir hatten keine Betten, nur Matratzen. Aber wir waren froh, ein Zimmer, ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Leiterin der Einrichtung ist ebenfalls Witwe.“
„Die ersten Monate hat uns die Caritas die Miete für diese Wohnung bezahlt. Wir waren praktisch völlig mittellos“, sagt Svitlana. Mittlerweile hat sie in der Einrichtung für Autisten eine Festanstellung bekommen. „Nachdem wir alles verloren haben, tut es gut, stark zu sein, helfen zu können“, sagt die Witwe. Lebensunterhalt und Miete kann sie für sich und ihre Kinder bestreiten. Eigentlich stehen ihr eine einmalige Entschädigungszahlung für Witwen von verstorbenen Soldaten zu und Witwenrente. „Doch bis das Geld bewilligt wird, kann es noch dauern. Es gibt so viele Witwen“, sagt die Mutter.
Vor allem Igor zieht sich seit dem Tod des Vaters zurück
Wie viele es genau sind, weiß niemand. Der Krieg nimmt den Frauen ihre Männer, den Eltern ihre Kinder, den Schwestern ihre Brüder.
Svitlana weiß, dass alles Geld dieser Welt den Verlust ihres Mannes nicht auffangen könnte. Sie muss den eigenen Schmerz ertragen und sich zuerst um ihre Kinder kümmern. Vor allem Igor macht ihr Sorgen. „Er zieht sich in sich zurück. Ich hatte gehofft, vielleicht findet er durch Judo oder einen anderen Sport Kraft. Aber es ist wohl noch zu früh dafür“, sagt die Mutter leise.
Igor sitzt dann oft in sich gekehrt in seinem Sessel neben dem Fenster. „Er ist so still geworden. Meine Kinder müssen so tapfer sein“, sagt die Mutter.
Die kleine Polina hat von den Grenztruppen ein Barett bekommen. So eines, wie es ihr Vater trug. „Für Polina ist es das Barett ihres Vaters. Sie ist so stolz darauf. Es gibt ihr Mut“, meint Svitlana.
Sie geht ins Wohnzimmer zu ihren Kindern und den Bildern ihres Mannes. Igor und Paulina sind still. Der Junge liest und Paulina spielt mit einem Einhorn-Kuscheltier. Nicht weit entfernt liegt das Barett auf einem Kissen. „Polina liebt Einhörner“, erklärt die 36-Jährige mit einem Lächeln und spielt ein wenig mit ihrer Tochter. Die beiden reden dabei leise miteinander, flüstern fast.
Mit anderen Kriegswitwen zu malen, das hat ihr gutgetan
Im Raum ist noch ein anderes Bild. Svitlana hat es mit Acryl auf Leinwand gebracht. „Es war ein Malprojekt mit anderen Witwen. Das Malen hat mir gutgetan, aber auch, mit Frauen zusammen zu sein, die die gleiche Trauer wie ich zu bewältigen haben. Letztendlich können nur sie verstehen, was der Verlust für mich bedeutet. Das können alle Therapiestunden nicht ändern.“ Svitlana will verarbeiten, indem sie anderen hilft. „Ich belege gerade einen Kurs, um später mit Gesprächstherapien helfen zu können. Ehrenamtlich engagiere ich mich ebenfalls bei einer Hilfsorganisation.“
Hat Svitlana ein freies Wochenende, fährt sie oft nach Dnipro zum Grab von Volodymyr. „Es ist schwer, hier in Kiew keinen Ort zum Trauern zu haben“, erklärt die 36-Jährige. Sie träumt davon, einen Baum für ihren Mann zu pflanzen und dazu 1000 weiße Tulpen. Einen Ort dafür hat sie schon gefunden: im Botanischen Garten von Kiew. Die Erlaubnis dafür liegt bereits vor. Sobald Svitlana das Geld zusammen hat, will sie mit dem Pflanzen beginnen. Der Baum und die Blumen, sagt sie, sollen auch anderen Witwen Mut machen. Sie sollen die Menschen daran erinnern, welche Opfer für diesen Krieg gebracht werden. Es sind schon so viele Trauernde.