Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Krieg in der Ukraine: Kind traumatisierter Eltern: Woher kommt Putins Brutalität?

Krieg in der Ukraine

Kind traumatisierter Eltern: Woher kommt Putins Brutalität?

    • |
    Russlands Machthaber Putin wuchs in einer traumatisierten Familie auf.
    Russlands Machthaber Putin wuchs in einer traumatisierten Familie auf. Foto: Mikhail Klimentyev, AP/dpa

    Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat 2017 einen Aufsatz veröffentlicht zum Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Es geht dabei um das vor allem bei Holocaust-Überlebenden beobachtete Phänomen, dass nicht verarbeitete Traumata Wirkung in folgenden Generationen entfalten können. Die Kinder und Kindeskinder der Betroffenen sind also nicht frei von den Erlebnissen ihrer Vorfahren, ihr Handeln kann teilweise oder gänzlich bestimmt sein von den Katastrophen, die die Vorfahren erleben mussten.

    Wie sollte das auch anders sein? Kinder traumatisierter Eltern wachsen mit den Folgen der traumatisierenden Ereignisse auf, sie saugen Harmonie ebenso auf wie die Atmosphäre von Leid und Zerstörung. Auch Enkel und Urenkel können auf einer unbewussten Ebene betroffen sein, weil von den Vor-Generationen erlebte und nicht verarbeitete Ereignisse auch bei ihnen Wirkung entfalten. Man mag als simples Beispiel nur an einen stets traurigen oder depressiven Elternteil und die Auswirkungen jenes Gemütszustandes auf das Leben der Kinder bedenken.

    Wladimir Putin ist ein Kind traumatisierter Eltern

    Was hat das mit dem Krieg in der Ukraine und dem Mann zu tun, der diesen Krieg entfacht hat? Der russische Präsident Wladimir Putin, geboren am 7. Oktober 1952, ist, wie die viele Menschen seiner Generation, ein Kind traumatisierter Eltern. Gerne wird auf Putins gewaltfreudige Vergangenheit in den Hinterhöfen von Sankt Petersburg hingewiesen, die Rede ist vom „Hänfling“, der sich Respekt verschaffen wollte und es später zu Bravour in der Kampfsportart Judo brachte. Diese Sozialisierung ist allerdings erst ein Resultat aus Herkunft, Charakter und sozialen Umständen. Aufschlussreicher ist Putins Familiengeschichte, sie ist geprägt von tragischen Ereignissen.

    Sein Vater war sowjetischer Soldat im Zweiten Weltkrieg. „Er hatte sechs Brüder, von denen fünf gefallen sind“, schrieb Putin 2015 in einem Essay für die russische Zeitschrift Russkij Pioner. Sollten diese Angaben korrekt sein, woran kein Grund zu zweifeln besteht, hat Wladimir Putin fünf seiner Onkel nie kennen gelernt, weil sie im Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen. Putins Vater, Wladimir Spiridonowitsch Putin, starb 1999. Der Tod seiner fünf Brüder hat sein Leben zweifellos geprägt. Dies dürfte auf einer unbewussten Ebene auch für seinen Sohn Wladimir gelten.

    Putin kam acht Jahre nach dem Ende der Belagerung durch die Deutsche Wehrmacht zur Welt

    Familiengeschichtlich höchst bedeutsam ist auch die Belagerung von Putins Heimatstadt Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht, finnische Truppen und spanische Soldaten der „División Azul“ zwischen 1941 und 1944. Der spätere russische Präsident kam erst acht Jahre nach dem Ende der Belagerung zur Welt, die eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte darstellt. 900 Tage lang belagerten die Truppen Hitler-Deutschlands die Stadt. Mehr als eine Million Menschen kamen dabei ums Leben, die meisten verhungerten. Berichte vom Verzehr von Ratten, aber auch von menschlichen Leichen, lassen die Situation der völlig geschwächten Leningrader Bevölkerung nur erahnen. Familiengeschichtlich gibt es zwei bedeutende Ereignisse, die Putin selbst in Russkij Pioner schilderte. Die Leiche seiner Mutter Marija Iwanowna Putina wurde bereits abtransportiert, als der verletzt nachhause zurückkehrende Vater bemerkt haben soll, dass seine Frau noch atmete. Der Vater rettete Putins Mutter vor dem Abtransport in ein Massengrab, Putina starb viele Jahre später 1998.

    Wer die Belagerung von Leningrad hingegen nicht überlebte, war ein älterer Bruder des heutigen Präsidenten. Das dreijährige Kind wurde den Eltern während der Belagerung abgenommen, kam in ein Kinderheim und sollte zusammen mit anderen Kindern evakuiert werden. Stattdessen verstarb der ältere Bruder des russischen Präsidenten an den Folgen des Hungers und nach Auskunft der Mutter an Diphtherie. Auch ein weiterer, älterer Bruder Putins soll bereits im Kindesalter in den 1930er Jahren verstorben sein. Der durch die Hungerblockade ausgelöste Tod des dreijährigen Bruders ist wohl das schwerste bekannte familiengeschichtliche Ereignis in der Familie. Der heutige Kriegsherr stammt zweifellos aus einer vielfach traumatisierten Familie. Welche exakten Auswirkungen diese tragischen Ereignisse auf die Psyche und Vita des russischen Präsidenten haben, darüber lässt sich nur spekulieren.

    Geschichte zeigt: Opfer werden immer wieder selbst zu Tätern

    Eine direkte Kausalwirkung ist auszuschließen, sonst müssten Betroffene oder Angehörige von Opfer-Familien immer zu Aggressoren mutieren. Doch die Geschichte und Biographien zeigen, dass Opfer immer wieder selbst zu Tätern werden und ihren übergroßen, teilweise unbewussten Schmerz sowie Verlust in Aggression kanalisieren. Unwahrscheinlich ist, dass sich der Machtmensch Putin bewusst mit diesen Ereignissen und ihren Folgen auseinander gesetzt hat. Unbewusste Auswirkungen dieser Familiengeschichte sind deshalb nicht auszuschließen. Ihre globalen Folgen sind möglicherweise auch im Ukraine-Krieg zu beobachten.

    Der Logik folgend, dass Opfer aus unbewussten Hass- und Rachegelüsten selbst zu Tätern werden können, müsste sich Putins Aggression als Nachkommen der Opfer der Leningrader Blockade eigentlich gegen den Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, also die Bundesrepublik Deutschland, vielleicht noch gegen Finnen und Spanier richten. De facto sucht Putin ja auch die Konfrontation mit dem Westen in Form der Nato. Doch auch hier gibt es einen biographischen Ansatzpunkt für einen Erklärungsversuch.

    Woher kommt die Bereitschaft, den Tod von Massen für das eigene Ziel einzukalkulieren?

    Der russische Präsident berichtet in Russkij Pioner von seiner Mutter, die ein „weichherziger, gütiger Mensch“ gewesen sei und sich gegen Hass auf die Deutschen aussprach. „Wir hassten“, schreibt Putin. „Aber bei ihr war das aus irgendeinem Grund überhaupt nicht so. Ich habe mir ihre Worte eingeprägt: ,Was will man denn von ihnen? Sie waren fleißige Arbeiter wie wir auch. Man hat sie einfach an die Front getrieben.’“ Hat sich im Fall Putin die Loyalität zur Mutter mit dem Phantomschmerz des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der laut russischem Präsidenten „größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ zu einer desaströsen Kriegslust ausgewachsen?

    Wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, ob die „Entnazifizierung“ der Ukraine, das Vorgehen gegen ein angeblich von „Faschisten“ gesteuertes Regime in Kiew nur binnenrussischer Propaganda mit Ziel auf eine transgenerational traumatisierte Gesellschaft geschuldet ist, die bei der Chiffre „Nazi“ alle Gegenmittel für legitim hält. Oder entladen sich hier auf unheilvolle Weise auch die Projektionen eines transgenerational versehrten Nachkriegskindes?

    Eine eingleisige Erklärung greift im Fall Putin gewiss zu kurz. Doch alleine das verzerrte Geschichtsbild des Präsidenten als Grund für den Krieg auszumachen, kann keine ausreichende Antwort sein. Woher kommen die enorme Brutalität, die Bereitschaft, den Tod von Massen für das eigene Ziel einzukalkulieren, gegebenenfalls sogar Atomwaffen einzusetzen und möglicherweise einen neuen Weltkrieg zu riskieren? Wo rationale Begründungen zu versagen scheinen und oft nur noch „Wahnsinn“ als Erklärung genügt, führt die transgenerationale Perspektive auf eine Spur. Putin und der Ukrainekrieg lassen sich mit ihr gewiss nicht aufhalten.

    Jeder Versuch hingegen, familiäre Traumata und ihre Wirkungen auf das eigene Leben zu dechiffrieren, kann ein Schritt in Richtung Frieden sein.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Ukraine-Konflikt.

    Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast an. Die Augsburgerin Tanja Hoggan-Kloubert spricht über die Angst um ihre Eltern in der Ukraine – und die überwältigende Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden