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Krieg in der Ukraine: Kampf um Kiew: Bürgermeister Vitali Klitschko will Russland die Stirn bieten

Krieg in der Ukraine

Kampf um Kiew: Bürgermeister Vitali Klitschko will Russland die Stirn bieten

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    Da war es noch eine Übung: Vitali Klitschko, Ex-Boxer und Bürgermeister Kiews, will seine Stadt notfalls an der Waffe verteidigen.
    Da war es noch eine Übung: Vitali Klitschko, Ex-Boxer und Bürgermeister Kiews, will seine Stadt notfalls an der Waffe verteidigen. Foto: Pressedienst V. Klitschko

    Vitali Klitschko hat jahrelang trainiert, nicht den Hauch von Schwäche zu zeigen. „Dr. Eisenfaust“ nannte man ihn, als er noch im Boxring stand. In mehr als 87 Prozent seiner Kämpfe schlug er den Gegner k.o. – wovor soll einer wie er Angst haben? Wer Klitschko in diesen Tagen zuhört, erlebt einen sichtbar angeschlagenen Mann. So lange hat er davor gewarnt, Wladimir Putin werde eines Tages die Ukraine angreifen. So oft hat er an den Westen appelliert, sein Land nicht im Stich zu lassen. Nun stehen die russischen Panzer vor Kiew. Die Schlacht um jene Stadt, in der aus dem Profiboxer einst ein Politiker wurde, hat begonnen. Als Bürgermeister wirft sich Klitschko trotzig in einen scheinbar aussichtslosen Kampf. Doch angeschlagene Boxer sind manchmal die gefährlichsten.

    „Wir stehen einer der größten und stärksten Armeen der Welt gegenüber, aber wir müssen unsere Familien verteidigen, unser Land, unsere Städte“, sagt der dreifache Vater Klitschko und lässt keinen Zweifel daran, dass er dafür notfalls auch selbst zur Waffe greifen wird: „Ich habe keine andere Wahl, ich muss das tun. Ich werde kämpfen.“ Viele seiner Landsleute wollen sich nicht geschlagen geben, schon seit Monaten trainieren sie für den Tag, an dem Putin kommt.

    Krieg in der Ukraine: Mehr als hunderttausend Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen

    Während man sich im Westen bis zuletzt nicht vorstellen konnte, was man sich nicht vorstellen wollte, haben die Ukrainerinnen und Ukrainer während der Krim-Krise und im Donbass schließlich erlebt, wozu der Despot im Kreml in der Lage ist. Manche wollen deshalb nur noch weg. Mehr als hunderttausend Menschen sollen schon auf der Flucht sein. Kilometerlange Staus und Schlangen vor den Tankstellen zeugen davon.

    Die Stadt, die sie Heimat nannten, ist schon einen Tag nach dem Einmarsch der Russen schwer geschunden: Von einem Wohnblock sind kaum mehr als die Grundmauern übrig, nachdem wohl eine russische Rakete einschlug. Fassaden, schwarz vom Feuer. Straßen voller Trümmer. Medien berichten von Schießereien. Die Bilder aus Kiew wechseln sich auch in deutschen Fernsehsendern ab mit denen des russischen Außenministers Sergej Lawrow, der betont, dass keine Wohnsiedlungen beschossen werden sollen. „Niemand hat vor, das ukrainische Volk anzugreifen.“ Zynische Worte.

    Menschen suchen Schutz in einem Keller eines Gebäudes, während die Sirenen neue Angriffe ankündigen. Russland hat am Donnerstag einen umfassenden Angriff auf die Ukraine gestartet und Städte und Stützpunkte mit Luftangriffen oder Granaten beschossen.
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    Am Donnerstag hat Russland die Ukraine angegriffen. Menschen sind auf der Flucht und verlassen die Städte. Unsere Bilder zeigen Szenen des Kriegs.

    Auf Videos ist zu sehen, wie sich Menschen in Kiew in U-Bahn-Stationen in Sicherheit bringen. Häufig sind es die, deren Häuser keine Luftschutzbunker besitzen oder die gerade unterwegs sind, als Alarm geschlagen wird. Ukrainische Soldaten beziehen Stellung an Brücken und anderen strategischen Punkten der Stadt, gepanzerte Fahrzeuge rollen durch die Straßen.

    Wie schwer es ist, sicher aus Kiew herauszukommen, erlebt die Künstlerin Marianne Hollenstein aus Ulm. Die gebürtige Schweizerin hat eine Ausstellung in der Stadt vorbereitet, als Putin den Befehl zum Angriff gab. Ein Rückflug nach Deutschland ist unmöglich, am Himmel über der Ukraine sieht man nur Kampfhubschrauber, für Passagiermaschinen ist der Luftraum gesperrt. Hollenstein versucht, auf dem Landweg herauszukommen. Stundenlang wartet sie in der Schweizer Botschaft. Dann am Freitagvormittag die Erlösung. Ein Konvoi setzt sich in Bewegung. Erstes Ziel ist Tschechien. „Alle versuchen rauszukommen. Drücken Sie mir die Daumen“, schreibt sie im Chat mit unserer Redaktion. „Ich melde mich wieder – vielleicht aus Prag.“ Hollenstein hadert damit, dass sie ihre Freunde zurücklassen muss. Millionen Menschen in der Ukraine stehen vor einer noch viel dramatischeren Entscheidung: Sollen sie ihre Heimat zurücklassen, wenn die Russen kommen?

    Sohn einer Russin und eines Ukrainers: Vitali Klitschko ist der Bürgermeister einer "Heldenstadt"

    Für Wolodymyr Selenskyj stellt sich diese Frage nicht. Der Präsident, der früher einmal Schauspieler und Komiker war, will in Kiew bleiben, selbst wenn ihn das sein Leben kosten könnte. Von einem geheimen Ort aus wendet er sich per Videobotschaft an die Bevölkerung. Der Feind habe ihn als Ziel Nummer eins markiert, seine Familie als Ziel Nummer zwei, sagt er scheinbar unberührt. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer berichtet von einem dramatischen Telefonat mit dem Ukrainer. „Ich melde mich aus einem Land, von dem ich nicht mehr weiß, wie lange es noch besteht, und als Präsident, ohne zu wissen, wie lange ich noch am Leben bin“, habe Selenskyj das Gespräch begonnen. Das Staatsoberhaupt ist für viele Ukrainer zu einer Stütze geworden. Das gilt auch für Vitali Klitschko, der in Deutschland lange Zeit weit populärer war als in seiner Heimat.

    Erst im dritten Anlauf wurde er zum Kiewer Bürgermeister gewählt. Doch in diesen schweren Stunden steht die Stadt hinter ihm. Nun muss er Fluchtwege und Luftschutzbunker koordinieren – und den Menschen Halt geben. „Ich glaube an die Ukraine, ich glaube an mein Land, ich glaube an meine Leute“, sagt er – und da ist er wieder, der siegessichere Boxer, der zumindest nach außen hin keinen Hauch von Schwäche zulässt.

    Auch sein jüngerer Bruder Wladimir meldet sich am Freitag zu Wort. Auch er will nicht weichen. „Ich schreibe Ihnen aus Kiew, der Hauptstadt eines Landes im Krieg, eines Landes, das von allen Seiten angegriffen und überfallen wird. Es ist nicht der Krieg der Ukraine, es ist Putins Krieg“, steht in einem Text, den er online veröffentlicht. Das ukrainische Volk sei stark und werde sich selbst in dieser schrecklichen Prüfung treu bleiben. Immer wieder appellieren die beiden berühmten Brüder an den Westen, an Deutschland, wo sie einst zu Weltstars geworden sind. Sie fordern die Menschen in Russland und Europa auf, gegen diesen Krieg zu protestieren, auf die Straße zu gehen. Und tatsächlich passiert das in immer mehr Städten – sogar in

    Die Klitschkos, Söhne eines ukrainischen Offiziers und einer russischen Grundschullehrerin, fingen als Jugendliche mit dem Boxen an. Vitali lernte es auf einem sowjetischen Militärstützpunkt. Als Armeesportler gewann er 1991 seine erste Meisterschaft, damals noch als Kickboxer. Tausende Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, vor allem natürlich das Militär, wollen sich dem russischen Gegner ebenso mutig entgegenstellen wie ihr Bürgermeister einst im Ring. Präsident Selenskyi nennt Kiew eine „Heldenstadt“. Das Verteidigungsministerium berichtet am Freitag immer wieder von den Erfolgen der Armee gegen Putins Truppen, von zerstörten russischen Panzerfahrzeugen, abgeschossenen Flugzeugen. Dennoch: Allein von der Mannstärke her ist das ukrainische Heer dem russischen heillos unterlegen. Doch sich geschlagen geben? Niemals.

    Wird Kiew fallen? Seine Bürger wollen bis zuletzt kämpfen

    Mykhaylo Melnyk hat es raus aus der ukrainischen Hauptstadt geschafft. Der Pfarrer der griechisch-katholischen Kirche in Kiew und Direktor der Ukrainischen Sozialakademie befindet sich am Freitag im Haus seiner Eltern in der Westukraine. Mehr als 600 Kilometer von Kiew entfernt. Zwölf Stunden dauerte seine Autofahrt, die am Donnerstagabend begann. Alleine fünf Stunden davon stand er im Stau, um Kiew zu verlassen. Die Straßen waren voll, Checkpoints an allen Gebietsgrenzen. Er ist müde. Zu müde für ein Telefongespräch.

    Sein Körper zittere, schreibt er in einer Mail. Ihr Inhalt ist eine Mischung aus Verzweiflung und dem Willen, nicht aufgeben zu wollen. Alles auf einmal, alles in Sätzen wie diesen: „Was auch immer der Ausgang der kommenden Tage sein mag, das Leben hier wird nie mehr dasselbe sein. Die Ukrainer sind vereint wie nie zuvor: Der kollektive Hass auf den Eindringling wird sich schließlich in Zusammenarbeit und Wiederaufbau verwandeln. Aber in der Zwischenzeit werden noch viel mehr leiden und sterben.“ Russland könne diesen Krieg nicht gewinnen, schreibt Melnyk, Jahrgang 1981. Selbst wenn eine Marionettenregierung eingesetzt werde, würden die Ukrainer weiterkämpfen. Und er schreibt an diesem Freitagmittag: „Heute und heute Nacht wird entscheidend sein.“ Wenn Putin nicht aufgehalten werde, werde er den Dritten Weltkrieg beginnen.

    Ein anderer Geistlicher ist in Kiew geblieben und telefonisch erreichbar. Es ist kurz vor 15 Uhr in der Ukraine, deutsche Medien haben zuvor in Eilmeldungen berichtet, Putin sei nun doch zu Verhandlungen bereit. Vyacheslav Grynevych lacht verzweifelt auf – ein Lachen, das auch ein Weinen sein könnte –, als man ihn fragt, welche Hoffnung er in diesem Moment habe. „Dass uns Putin einfach in Ruhe lässt. Dass er uns tun lässt, was wir als unabhängiges und friedliches Volk tun wollen“, sagt er.

    Kiew unter Beschuss: Menschen retteten sich in U-Bahn-Stationen oder Keller.
    Kiew unter Beschuss: Menschen retteten sich in U-Bahn-Stationen oder Keller. Foto: Emilio Morenatti, ap/dpa

    Grynevych ist Pallottinerpater und Generalsekretär der römisch-katholischen Hilfsorganisation Caritas-Spes. In der Nacht habe es Bombardierungen gegeben, erst vor wenigen Stunden wieder einen Alarm, dann die Information, dass ein Teil Kiews von russischen Soldaten besetzt sei, Kämpfe. Und Beschuss. Durch Helikopter oder Flugzeuge, er wisse es nicht so genau. Die Einschläge seien vielleicht zwei, drei Kilometer weit weg. In seinem Kloster, erzählt Pater Grynevych, seien 27 Kinder und deren Mütter untergekommen. So lange, wie es nötig sei. „Im Moment sind wir hier sicher.“ Aber er ist sich genauso sicher, dass Kiew fallen wird. In den nächsten Stunden oder Tagen? Vyacheslav Grynevych glaubt daran, dass die ukrainischen Soldaten sie eine Zeit lang schützen können. Nur wie lange? „Wir werden sehen.“ Danach erzählt er davon, wie leer die Stadt sei. Er sei in einem Supermarkt gewesen, in dem sich die Menschen mit Vorräten eindeckten. Sie seien ihm ratlos vorgekommen, nicht wissend, was sie machen sollten in dieser verzweifelten, ungewissen Lage. Aber nicht panisch.

    Auch Vitali Klitschko war als Boxer vor allem wegen seiner Nerven- und Willensstärke gefürchtet. Die wird er in den kommenden Stunden und Tagen brauchen. Dem einst so Furchtlosen ist die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Angst um sein Land, die Angst vor dem Krieg. Mag der Westen die Ukraine auch im Stich lassen, sein Kampfgeist ist noch nicht erloschen. „Wenn eine militärische Aggression beginnt, dann werde ich ein Sturmgewehr nehmen und für die Ukraine kämpfen gehen“, sagt er. In all seinen Kämpfen als Profiboxer ist Klitschko niemals k. o. gegangen.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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