Rauchfahnen steigen auf. Über den Kiefernwäldern, die sich links und rechts der Straße erstrecken. Über den zerstörten Häusern, die am Rand des brüchigen Asphalts stehen. Die ziehen gerade und steil nach oben in den Himmel. Sieben, acht, neun schwarze Säulen sind es. Kaplan Wolodymr hat keine Zeit, sie zu zählen. Er drückt das Gaspedal seines betagten Allrad-SUV durch. Der schwarze Mitsubishi kämpft mit den Schlaglöchern. Dann geht es von der Asphaltstraße auf einen unbefestigten Weg. Das Auto zieht eine mächtige Staubfahne hinter sich her. Wolodymr fährt zu einem Dorf, keine zwei Kilometer vom heftig umkämpften Wowtschansk entfernt. Am Ortseingang qualmt ein abgebranntes Haus. Ein Volltreffer, vermutlich von einer Artilleriegranate.
Der bärtige Militärkaplan und der Polizist, der ihn begleitet – er heißt Vitali – haben es eilig. In der Luft könnte eine russische Drohne schwirren, Einschläge sind im Minutentakt zu hören. Bramm, bramm, bramm kracht es nahe des Dorfs. Die beiden Männer eilen an der Hausfront einer der einstöckigen Bauernkaten entlang. Die gemeldete Nummer passt. Eine Türklingel gibt es nicht. Also klopfen sie hart gegen das Fenster. "Evakuierung", ruft Wolodymr.
"Hörst du denn nicht die Einschläge?", schnauft Militärkaplan Wolodymr
Das Gesicht einer älteren Frau erscheint. "Mütterchen, wir haben keine Zeit", sagt der Kaplan. Kurz darauf geht die Tür knarrend auf. Die beiden Männer verschwinden im Haus. Drinnen hat Rentnerin Tetjana alles Nötige gepackt. Zwei große Tragetaschen stehen im Dämmerlicht der Wohnstube. Tetjanas Ehemann ist fassungslos. "Wir müssen weg? Warum?", fragt er mit zittriger Stimme. "Hörst du denn nicht die Einschläge?", schnauft Wolodymr in Richtung des alten Mannes. Der kann offensichtlich nicht verstehen, dass die russische Armee eine weitere Front eröffnet hat. Dass sie im Nordosten der Ukraine auf die Millionenstadt Charkiw vorrückt. Seit Tagen schon. Besonders umkämpft ist Wowtschansk.
Wenn es so weitergeht, droht es hier bald auszusehen wie in den Siedlungen an der Frontlinie im Donbass oder im Süden: menschenleere Trümmerwüsten. Seit dem 10. Mai sind Tausende aus dem neuen Kampfgebiet geholt worden. In Sicherheit, vorerst. Alte, Gebrechliche, Menschen mit Behinderung und ohne eigenes Auto.
Tetjanas Mann wirkt verwirrt und verloren im milchigen Licht, das durch die Fenster in die Stube fällt. Der Kaplan und der Polizist greifen nach den Taschen. Sie nimmt Kater Musyuk unter den Arm, in der anderen Hand hält sie ihre Straßenschuhe. Sie hat noch immer ihre Hausschlappen an. Vor dem Hofeingang gibt sie den Kater an Vitali, streift ihre Schlappen ab, zieht die Schuhe über. Die Hausschlappen wirft sie über eine Mauer auf ihr Grundstück zurück.
"Wer ist noch im Dorf?", fragt der Kaplan. "Eine Frau mit ihrem alten Vater, gleich zwei Häuser weiter", sagt die Endsechzigerin und steigt in den SUV. Als der vor dem Haus in der Nachbarschaft zum Stehen kommt, muss der Militärkaplan nicht erst am Fenster klopfen. Eine Frau, dunkelblond, um die 30, läuft ihnen entgegen. Sie ist völlig aufgelöst, weint. "Mein Vater weigert sich zu gehen. Mein Gott, ich komme hier nicht weg", sagt sie. Ihre Stimme bebt.
Bramm, bramm dröhnt die Artillerie. "Wir können nicht warten. Morgen kann es schon zu spät sein. Es ist zu gefährlich, wir müssen in andere Dörfer, um weitere Menschen zu evakuieren", erklärt der Kaplan. Der SUV rast weiter durch den weitgehend verlassenen Ort. Ziel ist ein Sammelpunkt in etwa sieben Kilometern. Polizeiautos, Kleinbusse und Feuerwehrfahrzeuge bringen Menschen zu ihm, einem Parkplatz mit angrenzendem Wald.
"Mein Gott, das ist doch alles nicht wahr", sagt Olga und bricht in Tränen aus
Paletten dienen dort als Sitzgelegenheiten. "Bleibt unter den Bäumen wegen der Drohnen", sagen Polizeibeamte und -beamtinnen. Sie tragen Schutzwesten und Helme und oft auch eine Kalaschnikow. Sie registrieren die Menschen, die zu diesem Sammelpunkt gebracht wurden. Menschen wie Olga und Panhe, 66 und 67 Jahre alt. Sie stammen aus Usbekistan. Vor 16 Jahren kamen sie, um sich um die erkrankte Mutter von Olga zu kümmern. Olga erzählt, wie sie Nächte unter Beschuss überstanden haben. Jetzt rauscht über ihren Kopf der Klangteppich einer abgeschossenen Salve von Gradraketen. "Mein Gott, das ist doch alles nicht wahr", sagt sie und bricht in Tränen aus.
Immer wieder kommen Polizeiautos und kleine Transporter an. Die Polizei ist verantwortlich für die Evakuierungen. Beamte öffnen die Schiebetüren, greifen den häufig betagten Menschen unter die Arme und führen sie zu einer der Paletten. In den Gesichtern der Menschen ist Verzweiflung eingeschrieben, die Angst vor völliger Ungewissheit. Andere warten bereits auf ihren Weitertransport ins rund 50 Kilometer entfernte Charkiw. Alles, was sie noch haben, ist in wenige Tragetaschen und Koffer gepackt.
Für Ira, Sergej und ihren Sohn Daniel sowie Kater Sonic geht es nun nach Charkiw. Daniel dürfte das letzte Kind sein, das aus Wowtschansk gebracht wurde. Sein Vater Sergej zittert am ganzen Leib. Steckt sich eine Zigarette nach der anderen an. Seine Mutter Ira muss der Ruhepol der Familie sein, aus ihrer Jacke lugt der Kater hervor. Für ihren Sohn findet sie beruhigende Worte. "Mach dir keine Sorgen", sagt sie dem Jungen, als er mit großen, ernsten Augen im Evakuierungsbus Platz nimmt. "Wir haben keine Ahnung, was uns in Charkiw erwartet", erklärt der Vater. Die Familie habe in Charkiw weder Verwandte noch Freunde. Der Sammelpunkt am Waldrand wird nur Stunden später aufgelöst. Vier Mal schlägt Streubombenmunition im Umkreis ein.
Kommt die Ukraine zunehmend in die Defensive? Am Montag berichten Medien in Deutschland unter Berufung auf ukrainische Quellen, dass sich die russische Offensive festgefahren habe. "Tatsächlich erreicht der Besatzer nicht sein Ziel, unsere Kräfte zu überdehnen und damit die Ukraine auf breiter Front von Charkiw bis zur Region Donezk zu schwächen", zitieren sie einen Satz aus der abendlichen Videoansprache Präsident Wolodymyr Selenskyjs vom Sonntag. Laut der ukrainischen Militärführung sei die russische Offensive in der Region Charkiw nach anfänglichen Gebietseroberungen inzwischen zum Stillstand gekommen. Auch weiter südlich, bei Tschassiw Jar, seien massive Angriffe der russischen Truppen abgewehrt worden.
Der nördliche Teil von Wowtschansk gilt schon unter russischer Kontrolle stehend
An der Notwendigkeit von Evakuierungen aus Wowtschansk und Umgebung ändert das nichts. Die Menschen aus dem Kampfgebiet werden vom Sammelpunkt bis zum Stadtrand von Charkiw gefahren. Dort bietet die Hilfsorganisation World Central Kitchen kostenlose Eintopfgerichte an. Das Rote Kreuz verteilt Decken, Matratzen und einfache Feldbetten. Es gibt Hilfe bei der Suche nach Unterkünften. Wer keine Verwandten oder Freunde in der Stadt hat, erhält eine Übernachtungsmöglichkeit.
Gerade sind Wolodymr (43), Lena (35) und Tochter Anya (9) im Hilfszentrum angekommen. Die Anstrengung der Flucht ist ihnen anzusehen. "Eine kleine Wohnung besorgen Verwandte für uns. Und wenn es nur ein Raum ist. Besser, als noch einmal eine russische Besatzung zu erleben, wie 2022", sagt Wolodymr. Er berichtet, wie sich die Menschen damals kaum noch aus dem Haus trauten, aus Angst, verhaftet zu werden. Wer für seine proukrainische Einstellung bekannt war, sei nicht mehr sicher gewesen.
Der nördliche Teil von Wowtschansk gilt schon unter russischer Kontrolle stehend. Und offensichtlich passiert dort, was bisher in allen russisch besetzten Gebieten geschah: Verhaftungen, Entrechtungen, Ermordungen. Davon berichten auch unabhängige Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International. Der örtliche ukrainische Polizeichef, Oleksiy Kharkivskyi, befürchtet, dass Zivilisten aus dem Raum Wowtschansk ermordet und verschleppt wurden. "Davon haben uns Augenzeugen berichtet. Wir werden ermitteln", sagt er.
Kann die Ukraine den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen?
Derweil versucht die ukrainische Armee, die Lage zu stabilisieren. Truppenkontingente werden an die neue Front verlegt. Ihre Zahl ist knapp, genauso wie die der Artilleriemunition. Monatelang hatte der US-Kongress Mittel für die Unterstützung blockiert. Die EU und andere westliche Unterstützer liefern deutlich weniger als versprochen. So hat ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen. Es wird gut zwei Monate dauern, bis die Waffenlieferungen die ukrainische Armee wieder aufmunitioniert haben. Die neue Front bindet Kräfte, Munition und Material der ukrainischen Armee, die sie momentan etwa beim Kampf um Tschassiw Jar im Donbass bräuchte. Befürchtet wird, dass Russland auch den Oblast Sumy angreifen wird. Russlands Präsident Wladimir Putin will die Zeit einer geschwächten ukrainischen Armee für Geländegewinne nutzen. So lässt er ganze Orte dem Erdboden gleich machen. Orte, wie den, den Rentnerin Tetjana verlassen musste. Wowtschansk, heißt es, sei mittlerweile evakuiert. In den Dörfern im Umkreis gehen die Rettungsaktionen weiter.