„Dort oben gab es eine Explosion. Ich dachte zuerst, es sei irgendeine Rakete. Aber nein, irgendwas stimmte da nicht. Es dauerte fünf Minuten, das Ding drehte sich, taumelte und fiel“, erzählt ein Augenzeuge der russischen Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda einen Tag, nachdem der Embraer-Privatjet mit der Flugnummer RA-02795 in der Nähe eines Bauernhofes bei Kuschenkino in der zentralrussischen Region Twer vom Himmel stürzte. Mit an Bord: der Söldnerchef Jewgeni Prigoschin, der Anführer seiner Gruppe Wagner, Dmitri Utkin, der die Paramilitärs einst mit seinem Kampfnamen versehen hatte, sowie weitere führende Mitglieder von Prigoschins Privatarmee, die die Operationen etwa in Syrien und im Sudan leiteten. Eine Riege skrupelloser Verbrecher, die in der Ukraine, im Nahen Osten und in afrikanischen Ländern – mit der Zustimmung des Kremls – buchstäblich über Leichen gingen. Alle zehn Insassen des Businessjets seien tot, meldete das russische Ministerium für Notsituationen kurze Zeit später. Die Luftfahrtbehörde bestätigte am Mittwochabend auch den Tod Prigoschins, Experten untersuchen seit Donnerstag die abtransportieren Leichen.
Der Gewaltverherrlicher hat Gewalt geerntet. Nicht überraschend. Prigoschins Tod zeigt, dass das Regime Putin vor keiner Vergeltungsmaßnahme zurückschreckt. „Nach dem Aufstand hatte man das Gefühl, dass das alles schlecht endet. So etwas verzeiht man im Kreml nicht“, zitierte das russischsprachige Medienportal Meduza einen Gesprächspartner aus dem Umkreis der Präsidialverwaltung in Moskau am Donnerstag. „So etwas“ war die Bloßstellung des russischen Präsidenten Wladimir Putin durch einen, der sich als Anwalt des kleinen Mannes inszenierte und in der Ukraine die Erfolge einfuhr, die die russische Armee nicht vorzeigen konnte, wenn auch unter unfassbar hohem Blutzoll.
Jewgeni Prigoschin, der aufgestiegene Ex-Kleinkriminelle, hatte am 23. Juni tausende seiner Kämpfer um sich versammelt und wollte mit einem „Marsch der Gerechtigkeit“ gen Moskau ziehen. Er hatte gefordert, dass ihm Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow ausgeliefert werden würden – Größenwahn, der ihm jetzt zum Verhängnis wurde. Prigoschin hatte sein Ansehen, das er gerade in den mittleren Rängen der Armee und auch in Teilen der russischen Bevölkerung genossen hatte, maßlos überschätzt.
Wladimir Putin ließ Prigoschin jahrelang gewähren
Es war Putin, der Prigoschin jahrelang gewähren ließ. Zunächst im Hintergrund, nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges auch öffentlich. Sein Marsch auf Moskau ließ ihn jedoch endgültig zum Fremden im System werden lassen. „Verräter“ hatte ihn Putin genannt, nachdem der Söldner-Chef mit seinen Panzern ohne jeglichen Widerstand in Rostow am Don an der Grenze zur Ukraine eingerückt war und die Kontrolle im Stadtzentrum übernommen hatte. In Putins Augen ist Verrat nur durch Tod zu vergelten.
Doch zunächst ließ Putin Prigoschin laufen, er soll sich sogar nach der Meuterei mit ihm im Kreml getroffen haben. „Freies Geleit“ hatte er dem Wagner-Chef versprochen und viele in Russland ratlos zurückgelassen. Der Wagner-Chef verschwand vorübergehend von der Bildfläche. Teile seiner Miliz gingen nach Belarus, wie im Deal mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko nach der Meuterei ausgehandelt worden war. Doch die zwei Monate bis zum Flugzeugabsturz hatte das Regime genutzt, nach und nach nicht nur die Unternehmen der Wagner-Gruppe zu zerschlagen, sondern auch den Mythos um die Person Prigoschin – bis es schließlich um die physische Vernichtung ging.
Erst vor wenigen Tagen hatte sich Prigoschin mit einem offenbar in einem afrikanischen Land aufgenommenen Video öffentlich zurückgemeldet. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Verteidigungsministerium bereits einige seiner Kämpfer als reguläre Soldaten unter Vertrag genommen, war sein Fürsprecher in der Armee, der Chef der Luftstreitkräfte Sergej Surowikin, abgesetzt worden. Zeichen dafür, dass die Zeit der Abrechnungen begonnen hat.
Der Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, sieht sich in seinem Bild des russischen Staatschefs bestätigt: „Dass bei diesen Machtdemonstrationen auch Unbeteiligte sterben, wird billigend in Kauf genommen“, sagt Nouripour unserer Redaktion. Das habe Folgen auch für den Westen und seine künftige Beziehung zum Kreml. „Es ist offensichtlich, dass Russland ein Terrorstaat ist, mit dem keine Vereinbarungen getroffen werden können“, warnt Nouripour.
Das staatliche Fernsehen hüllt sich in Schweigen
Offizielle Verlautbarungen zum Tod von Prigoschin, Utkin und den anderen gibt es nicht. Die Nachrichten im staatlichen Fernsehen verschweigen den Absturz. Der Staat tut, als hätte es den Mann, dem Putin vor nicht allzu langer Zeit den Orden „Held Russlands“ persönlich an die Brust geheftet hatte, nie gegeben. Das Regime zeigt einmal mehr, dass es fähig ist, seine Gegner mit den brutalsten Methoden zu „entsorgen“.
Die Ursachen für den Absturz des Jets dürften wohl auch durch die vom russischen Ermittlungskomitee eingeleitete Untersuchung nicht ans Tageslicht kommen. Ob ein Sprengsatz die Maschine in der Luft zerrissen hat oder ob die Embraer abgeschossen wurde, wie in den Telegram-Kanälen, die Prigoschin nahestehen, sogleich behauptet wurde, ist unklar. Klar aber ist eines: Prigoschins Tod wird von vielen Russinnen und Russen als öffentliche Hinrichtung wahrgenommen.
Wagner-Milizen wurden besser bezahlt als reguläre Soldaten
Mit seiner Gossensprache erreichte Prigoschin viele Menschen in Russland, er holte Kriminelle aus dem Gefängnis und versprach ihnen ein Leben in Freiheit, wenn sie in der Ukraine „ihre Pflicht am Vaterland“ ausüben würden. Für solche Männer und auch für Arme aus den unterentwickelten Regionen personifizierte Prigoschin die Hoffnung auf ein besseres Leben. Seine Kämpfer wurden besser bezahlt als die regulären Soldaten. Doch er ließ sie auch unerbittlich töten, wenn sie nicht so funktionieren, wie er es verlangte. „Er war eine Legende zu Lebzeiten“, schreiben seine Anhänger in ihren Trauerposts nun.
An die kolportierte Version, Prigoschin könnte von ukrainischen Raketen abgeschossen worden sein, will keiner der Unterstützer des Krieges glauben. Offene Kritik am Kreml wagt allerdings kaum jemand von ihnen. In Sankt Petersburg, dem Standort der Zentrale der Unternehmen Prigoschins, richteten seine Anhänger eine spontane Gedenkstätte ein. Sie rollten Flaggen der Wagner-Gruppe aus, legten Nelken nieder und stellten Kerzen auf. Für Sonntag riefen sie zu Versammlungen auf den zentralen Plätzen russischer Städte auf. In der Nacht auf Donnerstag hatte es nur vereinzelte Mahnwachen gegeben.
Wie es mit der Söldner-Truppe jetzt weitergeht, ist völlig unklar
Was mit seinen Kämpfern wird, ist unklar. Die Gruppe Wagner, auch wenn sie in den vergangenen Monaten immer mehr an Macht eingebüßt hatte, ist führungslos. Das birgt einige Gefahren, auch für die russische Bevölkerung. Zuletzt hatte es immer wieder Meldungen darüber gegeben, dass zurückgekehrte Wagnerowzy, wie die Söldner im Russischen genannt werden, in ihren Heimatorten randalierten, sich betranken, um sich schossen, Frauen vergewaltigten, Menschen töteten. Die Truppe ist schwer bewaffnet und unberechenbar. Dass sie sich allerdings gegen den Staat richtet, ist angesichts des starken Zeichens, das der Absturz Prigoschins an alle Feinde Putins sendet, wenig wahrscheinlich.