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Krieg in der Ukraine: In der Ukraine erobert die Müdigkeit das Schlachtfeld

Krieg in der Ukraine

In der Ukraine erobert die Müdigkeit das Schlachtfeld

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    Ukrainische Soldaten in der Nähe der Front. Auch der frühere Professor Ihor Zhaloba kämpft für sein Land.
    Ukrainische Soldaten in der Nähe der Front. Auch der frühere Professor Ihor Zhaloba kämpft für sein Land. Foto: Mstyslav Chernov, AP/dpa

    Um sein Handgelenk hat er ein geflochtenes Bändchen gebunden, die Farben: gelb und blau. Es ist kein modisches Accessoire, das der 59-Jährige da trägt. Ihor Zhaloba ist Professor, hat seine Studenten in Geschichte und internationalen Beziehungen unterrichtet. Doch seit mehr als 21 Monaten hat er keinen Hörsaal mehr von innen gesehen. Am 25. Februar 2022, einen Tag nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine, schloss er sich der Armee an, tauschte die warme Universität gegen den kalten Schützengraben. Doch der Kampf zehrt zunehmend an den Kräften. Ratlosigkeit und Nervosität machen sich breit – auch bei der politischen Führung in Kiew. 

    „Die Müdigkeit kommt, auch bei uns, obwohl wir von Anfang an sehr motiviert waren“, sagt Zhaloba. „Aber es gibt natürliche Grenzen.“ Dabei sei es noch nicht einmal die körperliche Anstrengung, die dieser Krieg mit sich bringt. „Es ist die Situation“, sagt er. Viele Menschen in der Ukraine glaubten, dass die Armee in diesem Jahr deutliche Fortschritte macht. Stattdessen haben sich die Kämpfe festgefressen. „Auch wir hätten gehofft, dass wir mehr schaffen“, sagt der Soldat. Ein militärisch wichtiger Durchbruch zum Asowschen Meer – quer durch den von Kreml-Truppen eroberten Landkorridor zur Halbinsel Krim – scheint in weiter Ferne. Befeuert wurden die nun geplatzten Hoffnungen ausgerechnet von Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst

    Ihor Zhaloba kämpft in der Ukraine an der Front.
    Ihor Zhaloba kämpft in der Ukraine an der Front. Foto: Ihor Zhaloba

    Die Kritik an Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj wird lauter

    Die Kritik an ihm wird lauter. Die Ukraine sei an diesem 24. Februar 2022 unvorbereitet gewesen, dennoch wolle der Präsident die eigene Fehleinschätzung nicht als solche benennen, ärgert sich Zhaloba. Wie habe das passieren können? Wer keine Analyse zulasse, der werde das, was falsch läuft, auch nicht lösen können. Selbst Wladimir Putin hat das offenbar eingesehen. Nachdem er in den ersten Kriegsmonaten von der ukrainischen Armee förmlich vorgeführt worden ist, stärkte er seine Truppe kontinuierlich. Auf den Schlachtfeldern sei das deutlich zu spüren gewesen, sagt Zhaloba. Die Männer, gegen die er kämpfen musste, seien besser ausgebildet, der Nachschub an Material versiege nicht. Stück für Stück hat der russische Präsident seinen Unterstützerkreis ausgebaut. Bekommt inzwischen Drohnen aus dem Iran und Munition aus Nordkorea, die eigenen Waffenfabriken laufen auf Hochtouren. In der Luft ist Russland der Ukraine meilenweit überlegen. 

    Inzwischen machen sich Soldaten in der ukrainischen Presse verärgert Luft. So sagte der in Deutschland ausgebildete Kompaniechef Mykola Melnyk dem Internetportal censor.net: „Der gesamte Plan der großen Gegenoffensive basierte auf einfachen Dingen: Die Russen sehen die Bradley, Leopard und hauen ab. Das ist es.“ Seine neu aufgestellte 47. Brigade habe den Ort Robotyne bereits am ersten Einsatztag einnehmen sollen. Stattdessen brauchten die ukrainischen Truppen gut zweieinhalb Monate. Die Front verläuft bis heute nicht weit von den Ruinen des Dorfes entfernt. 

    Die Militärhilfe aus dem Westen für die Ukraine lässt nach

    Besonders zu schaffen machen den Ukrainern die dichten Minenfelder. In der zerstörten Industriestadt Awdijiwka sind die ukrainischen Soldaten von einer Einkreisung bedroht. Im Gebiet Charkiw hat sich die Front bedenklich der Stadt Kupjansk genähert. Der weitere Verlauf des Krieges wird zu großen Teilen davon abhängen, wie es mit der westlichen Militärhilfe weitergeht. 

    Die Artillerie verfeuert Munition im Minutentakt, doch Experten zufolge erhalte Kiew bei Artilleriegeschützen schon jetzt nur ein Zwölftel der russischen Menge. „Wir haben einen echten Krieg“, sagt Zhaloba. „Und ein echter Krieg ist sehr aufwändig.“ Unglaubliche Massen an Geld und Material verschlinge er jeden Tag. Der ukrainische Generalstab veröffentlichte erst vor wenigen Tagen eine Liste über die russischen Verluste, unabhängig bestätigen lassen sich die Zahlen nicht. Darin aufgeführt sind unter anderem 5655 Panzer, 324 Flugzeuge, 10.560 gepanzerte Fahrzeuge – und 339.850 Soldaten. Auch die ukrainische Bilanz sieht bitter aus. Gleichzeitig ist die internationale Militär- und Finanzhilfe für die Ukraine nach Berechnung deutscher Forscher in den vergangenen Monaten stark zurückgegangen. Von August bis Oktober seien dem Land Hilfspakete von 2,11 Milliarden Euro zugesagt worden, teilte das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel kürzlich mit. Dies sei nur etwas mehr als ein Zehntel der Summe aus dem Vorjahreszeitraum. In den USA wie in der EU sind Unterstützungspakete von einem hohen Umfang im Gespräch; sie stecken aber jeweils in politischem Streit fest.

    Ihor Zhaloba: "Wir müssen diesen Krieg gewinnen"

    Aufgeben werde die Ukraine dennoch nicht, davon ist Ihor Zhaloba überzeugt. Denn für viele Menschen geht es um mehr als um Sieg oder Niederlage, für sie geht es um alles. „Das Bewusstsein, dass wir nicht zu Russland gehören wollen, spielt bis heute die entscheidende Rolle in der Ukraine“, sagt er. Man wolle zu einem freien Europa gehören. Dass das in den Hauptstädten des Westens nicht stärker erkannt wird, enttäuscht ihn. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wüssten ganz genau, wie es sei, in einem autoritären System zu leben. Die historischen Erfahrungen seien Motivation. „Wir müssen das schaffen, wir müssen den Krieg gewinnen“, sagt er. „Dieses Wissen überwindet auch unsere Müdigkeit.“ Das Ziel seien die Grenzen aus dem Jahr 1991 – das schließt sowohl die Gebiete im Osten des Landes als auch die Krim mit ein. „Aber für mich heißt ein Sieg nicht nur, dass wir unsere Grenzen zurückbekommen, sondern dass Russland es nie wieder wagen wird, uns anzugreifen“, sagt Zhaloba. Und auch die Ukraine selbst müsse als ein neues Land aus diesem Krieg hervorgehen: mit weniger Korruption, mit einer starken Armee. 

    Zhaloba könnte es sich einfach machen. Der Professor hat ein breites Netzwerk nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, wo er an der Universität war. Also doch fliehen? Der 59-Jährige schüttelt den Kopf. Seine Heimat bleibt die Ukraine. Wann die wieder zurückkehren wird zu einem Frieden, lässt sich kaum vorhersagen. Bewaffnete Konflikte werden einer aktuellen Analyse zufolge immer intensiver und sind immer schwieriger zu lösen. „Der Trend zur Unlösbarkeit spiegelt sich in einer zunehmenden Dauer von Konflikten wider, die derzeit auf durchschnittlich etwa 30 Jahre geschätzt wird, verglichen mit weniger als 20 Jahren zu Beginn der 1990er Jahre“, schreibt die Londoner Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS). Als Beispiel nennt der Thinktank explizit den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Wiederaufbau des Landes sei nur mit Sicherheitsgarantien für Kiew möglich, die nicht in Sichtweite seien. Der diplomatische Stillstand und die militärische Pattsituation in der Ukraine deuteten auf einen potenziell langwierigen Konflikt hin. 

    „Ich sehe jeden Tag, wie absurd ein Krieg ist“, sagt Zhaloba. „Wofür?“ Wenn er zu seinen Einsätzen fährt, sieht er an den Straßenrändern nicht nur verbrannte russische Technik, sondern auch die Leichen von russischen Soldaten. „Russlands Territorium umspannt Zehntausende Kilometer, wofür gibt es diesen Krieg, ich verstehe das nicht.“ (mit dpa)

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