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Krieg in der Ukraine: Gesprengter Staudamm: Ein Fünkchen Hoffnung nach der Flut

In einer großen Halle in Cherson liegen Hilfsgüter für die Flutopfer bereit. Ein Junge hat inmitten der Kleider rosafarbene Hasenohren entdeckt.
Krieg in der Ukraine

Gesprengter Staudamm: Ein Fünkchen Hoffnung nach der Flut

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    Im Bad kann Victoriya die Tränen nicht mehr halten. Über den Boden ziehen sich Erdschlieren. Der Waschbecken-Unterschrank mit den goldenen Zierleisten ist aus dem Leim gegangen, seine Türen sind aufgerissen und hängen schief. An den Wänden ziehen sich von oben bis unten Schlammspuren. Es stinkt erbärmlich, die Luft ist abgestanden und stickig. "Was waren wir stolz auf das schöne Badezimmer. Es war noch fast neu. Schauen Sie doch die schönen Fliesen", sagt die 55-Jährige. Dann fährt sie mit der Hand über die Wandheizung, deren Chrom mit einer bräunlichen Schicht überzogen ist.

    Russland beschuldigt die Ukraine, den Damm beschossen zu haben

    Victoriya führt aus dem Haus heraus. An der Aussicht verbessert sich nichts. Der ganze Garten ist ein Trümmerfeld. "Ich habe nicht einmal mehr die Kraft, auf die Russen wütend zu sein. Den Kachowka-Damm zu sprengen, was für ein Wahnsinn", sagt die 55-Jährige. Das geschah am 6. Juni. Russland beschuldigt die Ukraine, den Damm beschossen zu haben. Die Indizien- und Faktenlage zeichnet jedoch ein anderes Bild – das einer Sprengung durch russische Kräfte.

    Besonders stolz war Victoriya auf ihr neues Badezimmer. Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr halten, wenn sie die Zerstörung sieht.
    Besonders stolz war Victoriya auf ihr neues Badezimmer. Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr halten, wenn sie die Zerstörung sieht. Foto: Till Mayer

    Fakt ist vor allem das ungeheure Ausmaß der Zerstörung, die das Unglück nach sich zog. Der Kachowka-Stausee fasste am Tag des Unglücks 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Die Wassermassen wälzten sich 85 Kilometer lang längs des Dnipro bis zur Einmündung ins Schwarze Meer. Laut Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums wurden dabei allein im Oblast Cherson 10.000 Hektar Fläche überflutet.

    Der Korabelniy-Distrikt gehört zu den am meisten betroffenen Stadtvierteln der Stadt Cherson. Hier lebt Victoriya mit ihrem Mann Oleksandr (59, und ihrer Tochter Julia, 32. Besser gesagten: Sie lebten hier. Das Haus ist unbewohnbar, so wie fast alle Gebäude im betroffenen Teil des Viertels. Die Familie ist bei Freunden untergekommen, die im höher gelegenen Teil Chersons wohnen, der den Großteil der Stadt ausmacht. Bis zu drei Meter hoch stand das Wasser am 7. Juni im Korabelniy-Distrikt. "Das ganze Erdgeschoss war geflutet", erklärt Victoriya. Als die braunen Massen abflossen, blieben der Schlamm und feuchte Wände. Und 4210 Wohngebäude, die allein im Oblast Cherson zerstört sind.

    Fluten haben das Haus von Oleksandr und seiner Familie schwer beschädigt. In der Nachbarschaft sind Häuser, die nicht mehr zu retten sind.
    Fluten haben das Haus von Oleksandr und seiner Familie schwer beschädigt. In der Nachbarschaft sind Häuser, die nicht mehr zu retten sind. Foto: Till Mayer

    Sobald es möglich war, begannen Victoriya, Oleksandr und Julia damit, den Dreck aus dem Haus zu schaufeln. "Das wird noch lange dauern", stöhnt Oleksandr. Er steht im Erdgeschoss, trägt feste Schuhe, eine blaue Arbeitshose und ein gleichfarbiges T-Shirt. Der Raum wirkt mehr wie eine Höhle als wie ein Zimmer. Teile der Wand waren mit Felssteinen gemauert. Das hereinströmende Wasser hat einige von ihnen gelöst. Jetzt liegen die schweren Brocken über den Boden verstreut. "Das wird eine Knochenarbeit", erklärt er und stellt sich auf einen der wackeligen Felssteine. Im Nachbarzimmer gibt es nur dunkles Mauerwerk, die Tapeten haben sich gelöst. Licht spendet hier nur eine Handlampe.

    Hier bedeutet Ufernähe zugleich Frontnähe

    Victoriya steht mit kurzen Hosen und Arbeitshandschuhen in der hellen Küche, hier fällt viel Licht durch das Fenster. In der Küche hat die Familie schon den Schlamm herausgeschaufelt. "Wenigstens dieses Zimmer ist geschafft. Das ist etwas. Als die Flut kam, konnte ich 20 Tage lang keinen richtigen Schlaf finden. Der Stress war unfassbar. Die Angst, alles zu verlieren."

    Victoriya im Erdgeschoss ihres Hauses: Einige Räume erinnern mehr an eine dunkle Höhle als an ein Zimmer.
    Victoriya im Erdgeschoss ihres Hauses: Einige Räume erinnern mehr an eine dunkle Höhle als an ein Zimmer. Foto: Till Mayer

    Das Heim der Familie liegt nahe am Ufer des Dnipro. Ein kleiner Damm liegt noch zwischen dem Fluss und den ein- bis zweistöckigen Einfamilienhäusern, die sich dahinter längs der parallel verlaufenden Straße ziehen. Überall sind Schutthaufen, liegt ausgeschaufelter Schlamm aus den Häusern. Auch hier zieht Gestank zwischen den Häusern und über die Straße.

    Ufernähe bedeutet Frontnähe. Auf der anderen Seite des Dnipro beginnen die russischen Stellungen. Keine fünf Kilometer Luftlinie liegen diese von Victoriya und Oleksandr entfernt. Geschützdonner, das gehört zum Alltag. Die 55-Jährige zeigt auf den ersten Stock ihres Wohnhauses. Dort sind Sperrholzplatten in die Fensterrahmen genagelt. Ein Teil des Mauerwerks fehlt. "Am 12. Februar 2023 in den Morgenstunden schlug eine Granate in unser Haus ein", sagt sie. "Wir dachten uns, schlimmer kann es jetzt ja nicht mehr kommen", schüttelt Oleksandr den Kopf.

    Oleksandr im „Garten“ seines Hauses. Dort hat die Flut ein Chaos aus Schutt und Unrat hinterlassen.
    Oleksandr im „Garten“ seines Hauses. Dort hat die Flut ein Chaos aus Schutt und Unrat hinterlassen. Foto: Till Mayer

    Oleksandr hofft, dass die Flut das Haus nicht irreparabel zerstört habe, dass die Statik keinen Schaden genommen habe. So wie beim Nachbarn. Dort hat sich das ganze Haus gesenkt, es sieht aus wie gekippt. 42.000 Menschen sollen im Oblast Cherson links und rechts des Dnipro ihr Zuhause verloren haben.

    Victoriya ist wieder in ihren Garten gelaufen und redet sich die Verzweiflung von der Seele. Sie erzählt von ihren Rosen, wie ihr Mann den Grill für ein leckeres Schaschlik anwarf. Vom alten Gartenglück ist nur noch wenig zu erahnen. Eine schlammverkrustete Hollywoodschaukel steht verloren in all den Trümmern, die die Flut in den Garten getragen hat. Notenblätter sind da zu finden. Holzkisten, Bretter, Kleidungsfetzen und ein Stofftier, dessen ursprüngliche Farbe nicht mehr zu identifizieren ist. Ein stinkendes, aschgraues Etwas, dessen orangefarbene Glasaugen in den blauen Sommerhimmel blicken.

    Im Garten von Victoriya und Oleksandr hat die Flut allerlei Unrat angeschwemmt.
    Im Garten von Victoriya und Oleksandr hat die Flut allerlei Unrat angeschwemmt. Foto: Till Mayer

    "Das alles hier stammt nicht von uns. Das hat die Flut gebracht", erklärt die 55-Jährige. Die Fluten transportierten nicht nur Schlamm. Tierkadaver, darunter 95.000 Tonnen toter Fisch, schwammen in ihnen mit, 150 Tonnen Öl, Chemikalien von Fabriken und landwirtschaftlichen Düngelagern, eine gesundheitsgefährdende Brühe. Dann kommt noch eine ganz andere Gefahr hinzu. Auch Landminenfelder wurden ausgewaschen. Die Sprengsätze sind jetzt im ganzen ehemals überfluteten Gebiet verteilt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz warnt eindringlich vor der Gefährdung der Zivilbevölkerung.

    Das ukrainische Gesundheitsministerium berichtete unter anderem, dass durch das Hochwasser Chemikalien und Krankheitserreger Brunnen und Gewässer kontaminiert hätten. Untersuchungen der Wasser­qualität belegten, dass die Überschwemmung Schadstoffe aus dem Boden herausgewaschen hat. Nitratwerte stiegen an. Die Konzentration von Eisen überstieg bei einigen Proben den zulässigen Höchstwert um mehr als das Doppelte.

    Die Kontamination reicht bis ins Schwarze Meer. Laut der Regionalverwaltung von Odessa kam es zu einem Massensterben von Meereslebewesen und der Zerstörung der Flora. Der ukrainische Umweltminister Ruslan Strilez schätzt, dass etwa 20.000 Wildtiere durch die Flut ums Leben gekommen seien. Darunter viele vom Aussterben bedrohte Arten. Gleich nach der Flutkatastrophe sprachen ukrainische Behörden ein kategorisches Verbot für den Verzehr von Fischen aus der betroffenen Region aus. Somit soll der Gefahr der Nervenvergiftung Botulismus begegnet werden. Die Folgen der Überflutung sind in ihrem gesamten Ausmaß noch nicht übersehbar. Insbesondere, da auch Daten aus den von Russland besetzten Gebieten fehlen.

    Ludmilla hat das Haus von ihren Eltern geerbt. Jetzt schaufeln ehrenamtliche Helfer den Schlamm heraus. Aber es ist unsicher, ob das Haus gerettet werden kann.
    Ludmilla hat das Haus von ihren Eltern geerbt. Jetzt schaufeln ehrenamtliche Helfer den Schlamm heraus. Aber es ist unsicher, ob das Haus gerettet werden kann. Foto: Till Mayer

    Ökokatastrophe, kontaminiertes Grundwasser, vergiftete Fische. Oleksandr kann da vor seinem beschädigten Haus nur noch seufzen: "Jahr für Jahr haben wir für unser Haus geschuftet, es Zimmer um Zimmer schön gemacht." Er arbeitet in einer Autowerkstatt. Doch in der Stadt leben vielleicht noch 20 Prozent der ursprünglichen Bevölkerung. "Viele Kunden sind es nicht mehr. Ab und an Soldaten, die ihre Fahrzeuge reparieren lassen. So können wir nicht genug verdienen, um das Haus wieder flottzumachen", sagt Oleksandr. Er hofft auf Aufbauhilfe vom Staat. Bis jetzt, sagt er, warte er da vergeblich auf verbindliche Zusagen.

    Selbst Freiwillige, die Flutopfer retten wollten, wurden beschossen

    Immerhin ein Helfer schaut gerade vorbei. Vlad von der lokalen Organisation "Support Kherson" bringt einen ganzen Schwung Mineralwasserflaschen vorbei. "Damit lässt es sich besser arbeiten", sagt er lachend. Vlad ist ein Bär von einem Mann. Zu seiner Sicherheit trägt er Helm und schusssichere Weste. "Die Russen schießen auch auf Helfer", sagt er. Mehrere derartige Fälle wurden berichtet. Selbst als Freiwillige die Flutopfer in Booten retteten, wurden sie beschossen. Vlad verteilt regelmäßig Wasser im Korabelniy Distrikt. Dort kommt kein Tropfen mehr aus den Wasserhähnen.

    Der ehrenamtliche Helfer Vlad bringt oft Trinkwasser zu den Flutopfern.
    Der ehrenamtliche Helfer Vlad bringt oft Trinkwasser zu den Flutopfern. Foto: Till Mayer

    Das Wasser holt er im Stadtzentrum ab. Dort lagern in einem großen Saal die Hilfsgüter. Altkleider, Medikamente, Nahrungsmittel und Wasser. Die Halle ist voll. Eine Handvoll Menschen sucht nach passenden Kleidungsstücken, eine Frau findet ein Paar Schuhe. Scheinwerfer tauchen alles in ein buntes, unwirkliches Licht. Ein Junge hat bei den Altkleidern zwei rosafarbene Hasenohren entdeckt und sie sich auf den Kopf gesetzt. Er springt zwischen Kartons und Kleiderhaufen herum, während seine Mutter auf der Suche nach passenden Hosen und Hemden ist.

    Die Helfer lachen, als sie den Jungen sehen. Helfer gibt es zum Glück viele. Vom Roten Kreuz bis zu lokalen Initiativen. Doch die Flutopfer werden einen Aufbaufonds benötigen, um ihre beschädigten Wohnungen und Häuser wiederherzurichten. 37 Siedlungen, davon 17 im russisch-besetzen Gebiet, waren überflutet. Allein im Oblast Cherson haben bisher 1424 Familien Hilfen bei staatlichen Stellen der Ukraine für den Wiederaufbau beantragt. Der Gesamtschaden ist noch nicht in seiner vollen Tragweite absehbar und wird ermittelt. 

    Eine weitere traurige Geschichte der Zerstörung durch den Krieg, die in der Ukraine mittlerweile gigantische Milliardensummen ausmacht. 

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