Die Herrenhäuser und Denkmäler zeugen von der Pracht vergangener Zeiten, an den Stränden des Schwarzen Meers tummelten sich früher Ausflügler und Erholungssuchende. Odessa gehörte zu einer der schönsten Städte der Ukraine. Doch der Krieg hat der Hafenstadt ihre Leichtigkeit genommen. In der Nacht auf Dienstag griff Russland die Region zum wiederholten Mal mit Kampfdrohnen an. Die Zahl der Toten ist zuletzt wieder stark gestiegen. Die Hilferufe von Präsident Wolodymyr Selenskyj sind eindringlich. „Putin will keinen Frieden – er will nur Krieg und Tod“, sagt er. „Es ist ihm egal, wen er tötet, sein Hauptziel ist die Zerstörung – zuerst die Ukraine und die Ukrainer. Und dann Sie, liebe Partner.“ Der Krieg müsse für Russland hoffnungslos werden. „Das russische Böse sollte nicht durch schwache Entscheidungen, Lieferverzögerungen oder Unentschlossenheit ermutigt werden.“
Doch die Partner im Westen sind mit sich selbst beschäftigt. Deutschland streitet über die Lieferung von Taurus-Raketen und hat einen handfesten Abhörskandal. In den USA sind Gelder, auf die Kiew dringend wartet, blockiert. Die EU hat zwar ein umfangreiches Finanzpaket genehmigt, doch was bei einem Ausfall von Washington als wichtigstem Partner geschehen würde, ist unklar. Die Frage aller Fragen ist: Wie kann die Ukraine noch an frisches Geld kommen? Nicht nur ukrainische Politiker weisen seit Monaten auf Mittel hin, die aus ihrer Sicht wie gemacht sind, um das kriegsgebeutelte Land zu unterstützen: Eingefrorenes russisches Kapital, das auf Konten im Ausland lagert, sogenannte frozen assets. Um die Frage wird seit Längerem gerungen. Sollte es zu einem entsprechenden Beschluss kommen, könnte nicht nur die Ukraine unterstützt werden – es wäre auch ein Signal an Moskau, dass der Westen bereit ist, den Druck zu erhöhen und Risiken einzugehen.
285 Milliarden Dollar an russischem Vermögen lagern auf westlichen Konten
Nicht nur in Berlin versucht man, das Thema zu einer Entscheidung zu bringen – im Sinne der Ukraine, aber auch mit größtmöglicher Vorsicht. Denn eine Enteignung – das wäre der Fall, wenn die Gelder vollumfänglich genützt würden – ist rechtlich mindestens umstritten. Eine Überlegung ist daher, ob zumindest die Zinsen eingezogen oder als Sicherheit am Kapitalmarkt genutzt werden könnten. „Als vorrangigen Schritt setzt sich das Bundesfinanzministerium für eine rechtssichere und schnell umsetzbare Lösung zur Nutzung von Erträgen aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten ein“, teilt das Haus von Bundesfinanzminister Christian Lindner unserer Redaktion mit. „Hierzu wird in Kürze ein Vorschlag der Europäischen Kommission erwartet, auf den sich die weiteren Diskussionen aufsetzen lassen.“
Die Beträge, die aufgrund westlicher Sanktionen seit Kriegsbeginn eingefroren sind, sind beträchtlich: Russische Vermögenswerte in Höhe von 285 Milliarden Dollar (262 Milliarden Euro) lagern aktuell auf westlichen Konten. Allein in der EU sind nach Angaben der Europäischen Kommission mehr als 200 Milliarden der russischen Zentralbank festgesetzt, auch in den USA und in Japan lagern Milliardenbeträge. Deutlich weniger käme zusammen, wenn nur die Zinserträge genutzt würden. Das Finanzinstitut Euroclear hatte zuletzt mitgeteilt, 2023 rund 4,4 Milliarden Euro an Zinseinnahmen gemacht zu haben, die in Verbindung zu Russlandsanktionen stehen. Euroclear ist in der EU das mit Abstand wichtigste Institut, das Vermögenswerte der russischen Zentralbank verwahrt. Schon jetzt müssen die Zinserträge gesondert ausgewiesen werden.
Manfred Weber sagt: „Putin-Russland muss zahlen“
„Russland führt einen brutalen Feldzug gegen die Ukraine“, sagt Manfred Weber, Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP) und Fraktionsvorsitzender im Europaparlament. „Damit ist viel Leid und Zerstörung in der Ukraine verbunden.“ Es sei, so Weber, deshalb nur gerecht, wenn Russland als Kriegsverursacher auch den Wiederaufbau finanzieren würde. „Warum sollten vor allem andere für die Verbrechen Russlands zahlen?“, fragt der Abgeordnete und fordert, endlich alle Optionen auf den Tisch zu legen. Doch auch er mahnt, die juristischen Fallstricke zu beachten: „Sollte eine Beschlagnahme eingefrorener russischer Vermögen nach internationalem Recht möglich sein, so müsste die EU das tun. Wenn nicht, dann müssen zumindest die Zinsen abgeschöpft und für den Wiederaufbau genutzt werden. Putin-Russland muss zahlen!“
Juristisch ist das Thema tatsächlich heikel – und bedarf einer genauen Abwägung von Risiko und Ertrag. „Auslandsvermögen von Staaten genießt einen hohen völkerrechtlichen Schutz“, sagt Christian von Soest, Sicherheitsexperte am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. Doch es geht nicht nur um rechtliche, sondern um politische Hürden: „Das Einziehen könnte zu einer Eskalation des Kriegsgeschehens führen, und russische Behörden könnten gegen internationale Unternehmen und Personen in Russland zurückschlagen“, sagt der Experte. Tatsächlich droht der Kreml, deutsche Firmen in Russland zwangszuenteignen. Zudem könnte eine direkte Nutzung der russischen Vermögenswerte auch dazu führen, dass andere Staaten und Anleger das Vertrauen in den eng vernetzten europäischen Finanzplatz verlieren und Vermögen aus der EU abziehen. „Auf der anderen Seite würde das Einziehen die Kosten für Russland nach oben treiben und – am wichtigsten – könnte zur Unterstützung der Ukraine im Krieg und beim Wiederaufbau eingesetzt werden“, sagt von Soest. Er rät: „Aus meiner Sicht sollten westliche Regierungen entsprechende Vorbereitungen treffen und dem Kreml das Einziehen der Gelder bei einer Fortsetzung des Kriegs glaubhaft androhen und dann die Mittel einziehen.“
Wofür die Ukraine Geld braucht
Geld benötigt die Ukraine nicht nur für den Kauf von Munition. Rund die Hälfte des Staatshaushaltes wird inzwischen aus ausländischen Hilfsgeldern bestritten, ohne Geld aus dem Westen wäre Kiew zahlungsunfähig, könnte staatliche Bedienstete nicht mehr bezahlen. Hinzu kommen die enormen Kosten für den Wiederaufbau. Aus einem Bericht der Weltbank und der Vereinten Nationen geht hervor: Bis Ende 2023 ist in der Ukraine ein direkter Schaden von mindestens 152 Milliarden US-Dollar (rund 142 Mrd. Euro) entstanden. Es seien etwa 8400 Kilometer Autobahnen, Schnellstraßen und andere Nationalstraßen, mehr als 200 Bahnhöfe und 150 Eisenbahnbrücken beschädigt worden. Die Gesamtkosten für den Wiederaufbau werden derzeit auf mindestens 486 Milliarden Dollar in den kommenden zehn Jahren geschätzt.