Nun also doch. "Russlands Öl- und Gaserlöse brechen um die Hälfte ein“, meldete jüngst die US-Agentur Bloomberg. "Der Geldstrom für die Kriegswirtschaft versiegt“, folgerten westliche Kommentatoren. Nach einem Jahr immer neuer Sanktionspakete erweisen sich die härtesten Wirtschaftsstrafen der Weltgeschichte als zunehmend effektiv. Selbst aus Moskau sind erstaunlich kleinlaute Töne zu hören. So warnt der kremlnahe Rohstoff-Oligarch Oleg Deripaska: "Wenn wir so weitermachen, haben wir nächstes Jahr kein Geld mehr.“
90 Prozent des für 2023 im russischen Haushalt geplanten Jahresdefizits sind schon jetzt erreicht. Fast scheint es, als könnte Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg in der Ukraine doch noch an der Wirtschaftsfront verlieren. Dabei zeigten die Sanktionen im ersten Kriegsjahr kaum Wirkung. Vor allem im Finanzsektor nicht, wo es für Putin ans Eingemachte gehen sollte. Der Ausschluss russischer Banken vom weltweiten Zahlungssystem Swift galt vor dem Krieg als "nukleare Option“.
Moskau ist gut darin, Schlupflöcher zu finden
Die Rechnung war simpel. Ohne Swift, das EU-Recht unterliegt, würde das russische Finanzsystem kollabieren. Wie bei einer Kettenreaktion. Doch die EU ließ einige Schlupflöcher, um den Handel mit Öl und Gas weiter abwickeln zu können. Am Ende verpufften die "nuklearen“ Swift-Sanktionen. Und es kam aus westlicher Sicht noch schlimmer. Der Krieg trieb die Energiepreise in schwindelerregende Höhen. Die russischen Giganten Gazprom und Rosneft fuhren trotz geringerer Ausfuhren Rekordgewinne ein.
2022 war ein fettes Jahr für den russischen Staat: Die Energiekonzerne spülten rund 145 Milliarden Euro in den Haushalt, 32 Milliarden mehr als 2021. Inzwischen jedoch haben sich nicht nur die Märkte beruhigt. Der russische Gasexport in die EU ist fast zum Erliegen gekommen. Zugleich hat der wichtigste Kunde Deutschland mit dem Aufbau einer neuen LNG-Infrastruktur begonnen. Als wirksamstes Sanktionsinstrument erweist sich aber der Preisdeckel beim Ölexport.
Russische Konzerne müssen hohe Abschläge hinnehmen
Seit Dezember müssen russische Konzerne bei ihren Verkäufen auf dem Weltmarkt hohe Abschläge hinnehmen, weil auch Drittstaaten nicht bereit sind, ohne Not höhere Preise zu zahlen. Die Folge: Im Januar und Februar nahm der russische Staat rund 45 Prozent weniger Steuern aus dem Verkauf von Öl und Gas ein als vor einem Jahr. Und Besserung ist nicht in Sicht. Der Bremer Ökonom und Ostexperte Michael Rochlitz sagt: "Russland hat mit der EU seinen wichtigsten Absatzmarkt wahrscheinlich für immer verloren.“
Hinzu kommt, dass es für Gazprom und Co. keine ähnlich lukrativen Alternativen gibt. Um die großen asiatischen Märkte beliefern zu können, bräuchte es vor allem beim Gas eine komplexe Infrastruktur. Für den Bau neuer Pipelines nach China veranschlagen Fachleute ein Jahrzehnt. Zumal die westlichen Ausfuhrverbote im Bereich Hochtechnologie solche Projekte erschweren. Nach einem Jahr des Krieges scheint das Räderwerk der Sanktionen also ineinanderzugreifen. Rochlitz bilanziert: "Der Schaden für die russische Wirtschaft ist schon jetzt katastrophal.“
Das allerdings sagt noch nicht viel über die Wirkung auf die Kriegspolitik des Kremls. Denn Putin hatte die Sanktionen und die Folgen längst eingepreist, als er den Angriff auf die Ukraine befahl. "Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet“, sagt der Moskauer Soziologe Grigori Judin. Entscheidend sei aber etwas anderes. Der Kremlchef wähne sich in einer "existenziellen Konfrontation“ mit dem Westen, der ihn angeblich vernichten wolle. Ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnungen spielten deshalb keine nennenswerte Rolle.
Moskauer Soziologe Grigori Judin glaubt nicht, dass Putin sich ändern wird
Im Kreml, sagt Judin, "glauben sie wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg mit dem Westen verwickelt sind.“ Wer Putins Denken verstehen wolle, müsse aufhören, Frieden und Wohlstand für einen erstrebenswerten Normalzustand zu halten. Eine Entscheidung in der Ukraine kann es demnach nur auf dem Schlachtfeld geben. Denn die Frage, ob sich Putins Weltbild durch irgendetwas beeinflussen lässt, beantwortet Judin knapp: "Nein, durch nichts.“ Schon gar nicht durch Sanktionen.