Keine zwölf Wochen ist Olaf Scholz im Amt, als er an einem sonnigen Sonntagvormittag im Berliner Reichstag die wichtigste Rede seiner Kanzlerschaft hält: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“, sagt der Kanzler drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine vor dem voll besetzen Bundestag. Nicht nur die Abgeordneten verfolgen seine Worte konzentriert und gebannt wie selten. Der große Historiker Heinrich August Winkler nennt sie damals gar die vielleicht bedeutendste, die er bis dahin im Bundestag verfolgt habe, so der 84-Jährige. In den USA ist „The Zeitenwende“ bis heute unter Sicherheitspolitikern ein geflügeltes Wort. Doch was bleibt ein Jahr später von der historischen Kanzler-Rede? Das Urteil fällt je nach Standpunkt sehr unterschiedlich aus.
SPD-Chefin Saskia Esken: Zeitenwende-Rede war hochemotional
SPD-Chefin Saskia Esken empfindet die Rede von Scholz bis heute als ein einschneidendes Erlebnis. „Der Kanzler hat die schlagartig eingetretenen Verhältnisse wortwörtlich auf den Begriff gebracht: eine Zeitenwende“, erklärt sie. „Es war hochemotional, die ganze Tragik entfaltete sich vor unseren Augen. Es herrscht Krieg in Europa.“ Auch sie selbst sagt in der Bundestagsdebatte, dass Deutschland Waffen an die Ukraine liefere, sei „eine tragische Notwendigkeit“, die moralisch geboten sei. „Daran hat sich auch ein Jahr später nichts geändert“, betont Esken.
Die Scholz-Rede sei sehr wichtig für das transatlantische Verhältnis Deutschlands zu den USA gewesen: „Sie enthielt ein klares Signal an unsere wichtigsten Verbündeten: Deutschland wird verteidigungspolitisch reifen“, sagt Esken. „Wir hatten den Krieg schon aus unseren Köpfen verbannt.“ Doch der habe Deutschland mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eingeholt.
Auch Union spricht von historischer Rede von Olaf Scholz
Auch der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter, der später zu einem der schärfsten Kritiker des Bundeskanzlers werden sollte, erinnert sich, wie Scholz damals auch in den Reihen der Union große Wirkung hinterlassen hat. „Die Rede war aus damaliger Sicht sehr beeindruckend, es war eine rhetorische Wende, denn der Bundeskanzler hat damals zum ersten Mal klar sicherheitspolitische Realitäten angesprochen und notwendigen Handlungsbedarf aufgezeigt und konkrete Maßnahmen angekündigt“, sagt Kiesewetter heute. „Das war so gesehen eine historische Rede, der Kanzler fand die richtigen Worte wenige Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine und dies haben auch unsere Partner in Europa und die USA damals so gesehen.“
Allerdings vermisst der Oppositionspolitiker seitdem bis heute klare Konsequenzen. „Umso enttäuschender ist die Bilanz nach einem Jahr: Es gibt keine Zeitenwende in Deutschland“, stellt Kiesewetter fest. „Die richtigen Worte aus der Rede von Scholz wurden nicht in ein politisches Programm umgesetzt“, kritisiert er. „Es blieb bisher dabei, dass Handlungen insbesondere bei der Unterstützung der Ukraine nur auf allergrößten Druck von außen zustande kamen, nicht aus politischem Willen.“
Tatsächlich herrschten nach der Scholz-Rede lange Debatten darüber, „schwere Waffen“ an die Ukraine zu liefern. Erst nach zwei Monaten kündigte die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht die Lieferung des Flak-Panzers „Gepard“ an. Es dauerte nochmals ein Vierteljahr, bis die ersten drei Exemplare des lange ausgemusterten Kampfgeräts einsatzfähig waren. Genügend Munition soll erst ab Sommer 2023 zur Verfügung stehen. Bei der Panzerhaubitze 2000 setzte der kleine Nachbar Niederlande Deutschland unter Druck: Nachdem die Regierung in Den Haag zwölf der Geschütze als Hilfe für die Ukraine anbot, zog Berlin mit sieben aus Bundeswehrbeständen nach.
Doch warum quälte sich die Ampel so bei den Entscheidungen für die Ukraine, obwohl der Kanzler doch selbst schneller und klarer als andere westliche Regierungschefs die Bedeutung der „Zeitenwende“ auf den Punkt brachte? Warum klaffen Worte und Taten so lange auseinander?
CDU-Politiker Kiesewetter: Bundeswehr steht nach Zeitenwende noch schlechter da
Kiesewetter glaubt, dass Scholz damals bei seiner Rede von einer ganz anderen Ausgangslage ausging: „Der ursprüngliche Schwung der Zeitenwende lag in der Befürchtung von Kanzler Scholz, dass die Ukraine innerhalb weniger Tage zerfällt und russische Truppen dann an der polnischen Grenze stehen“, sagt der frühere Bundeswehr-Oberst. „Als man merkte, dass die Ukraine sich erfolgreich zu Wehr setzte, erlahmte dieser Schwung sofort.“
Laut Kiesewetter war die Rede vor allem Richtung USA und auf die Bündnis-Herausforderungen ausgerichtet. „Die Rede war wichtig, denn Scholz kündigte vieles an, auf das unsere Verbündeten und insbesondere die USA schon sehr lange warteten“, sagt er. Allen voran war das Versprechen, künftig das Ziel einzuhalten, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren und sich stärker an den Kosten und Einsatzmitteln der Nato zu beteiligen. „Umso verwunderter war man in Washington, dass es bei der fairen Lastenteilung bei leeren Worten blieb, das Sondervermögen nicht umgesetzt wurde und auch die Zusage zum Zwei-Prozent-Ziel nun nicht mehr gilt“, sagt der Ex-Nato-Mitarbeiter Kiesewetter. „Das hat Verdruss geschaffen und vor allem Vertrauen gekostet.“
SPD-Chefin Esken weist die Kritik zurück und mahnt Geduld bei der Ausrüstung der Bundeswehr an. „In unseren schnelllebigen Zeiten wird mitunter verlangt, dass politische Prozesse in Echtzeit begleitet werden können, daraus erwächst ein Anspruch, über jeden Schritt informiert zu werden“, sagt Esken. „Gerade in der Verteidigungspolitik muss aber ein Teil abseits der Öffentlichkeit geschehen, auch wenn ich verstehen kann, dass der ein oder andere ein Problem damit hat“, erklärt sie.
Bei der Unterstützung der Ukraine und der Bundeswehr müsse die Bundesregierung ihre Schritte genau abwägen. „Die Lage in Europa ist auch ein Jahr nach Kriegsbeginn sehr angespannt“, betont sie. „Mit Beschluss des Sondervermögens für die Bundeswehr sind die Konsequenzen der Zeitenwende in Gang gekommen.“ Zudem habe die Zeitenwende mit dem neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius ein vertrautes Gesicht bekommen.
Kiesewetter zieht dagegen eine negative Bilanz: „Die Bundeswehr hat ungeheure Defizite und die Zeitenwende hat bei ihr bislang noch gar nicht begonnen“, sagt der frühere Bundeswehr-Oberst. „Das fängt damit an, dass unsere Munition gerade mal für zwei Tage reicht, bei der Luftwaffe für wenige Stunden. Alleine die Nachbeschaffung würde das halbe Sondervermögen verbrauchen.“ Doch nicht mal dies geschehe. „Von dem 100-Milliarden-Sondervermögen ist mehr durch die Inflation verloren gegangen, als für die Streitkräfte eingeplant wurde“, kritisiert er. „Die Truppe hat ein Jahr verloren und ist nun blanker als Anfang 2022.“