Es gibt ein Foto, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Problem wird. Es zeigt ihn bei einer beinahe zärtlichen Begrüßung mit Russlands ewigem Außenminister Sergei Lawrow. Im Vorbeigehen berührt Lawrows Hand den oberen Arm des sitzenden Steinmeiers, der wiederum sanft nach Lawrows Sakko-Ärmel greift. Das Bild ist auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2016 entstanden. Das war zwei Jahre nachdem Russland sich die Halbinsel Krim einverleibt und im Donbass im Osten der Ukraine Separatisten von der Kette gelassen hatte. Steinmeier war seinerzeit Außenminister.
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat jetzt das deutsche Staatsoberhaupt für sein inniges Verhältnis zu Russland angeklagt. "Steinmeier hat seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft", sagte Melnyk dem Tagesspiegel. Das Verhältnis zu Russland sei für Steinmeier etwas Heiliges. "Auch der Angriffskrieg spielt da keine große Rolle."
Im Rückblick wirken viele von Steinmeiers Aussagen hoffnungslos gutgläubig
Es sind vernichtende Worte für einen Diplomaten, der damit auch das ungeschriebene Gesetz gebrochen hat, dass sich harte öffentliche Kritik am Bundespräsidenten verbietet. Der Bundespräsident soll als moralisches Gewissen der Nation wirken und über dem rauen Streit der täglichen Politik stehen.
Aber seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Zeiten alles andere als alltäglich und es drängt sich die Frage auf, ob das Gewissen der Nation nicht selbst ein schlechtes Gewissen haben muss? Steinmeier hat in den vergangenen Jahren vieles gesagt, was heute als hoffnungslos gutgläubig erscheint. Es war ebenfalls im Jahr 2016, als Steinmeier in seiner Funktion als Außenminister die Nato vor einem Säbelrasseln im Osten warnte. Anlass war ein gemeinsames Manöver der Allianz. "Wer glaubt, mit symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr Sicherheit zu schaffen, der irrt", sagte er seinerzeit.
In der Rückschau hätten vielleicht Panzerparaden des Westens Wladimir Putin abhalten können, der nur die Sprache der Härte versteht. Im selben Jahr hielt er an der Universität von Jekaterinburg eine Rede, die ihm einst einen Ehrendoktor verlieh. "Aber all das", setzte Steinmeier an und meinte damit die Besetzung der Krim, "ist kein Grund, einander den Rücken zu kehren. Im Gegenteil: Es ist umso mehr Grund, alle Anstrengungen darauf zu richten, sich nicht zu verlieren oder gar zu entfremden (...)."
Putin bombte schon in Syrien - doch es flackerte nur kurz Empörung auf
Der russische Präsident hatte sich zu dieser Zeit schon lange davon verabschiedet, eine Zukunft seines Landes an der Seite des Westens zu suchen. Seine Soldaten legten das syrische Aleppo in Schutt und Asche, genau wie sie es heute in der Ukraine tun. Aber in Syrien kämpfte die halbe Welt gegen die radikalen Halsabschneider des Islamischen Staates, weshalb zwar gelegentlich Empörung aufflackerte, wenn russischen Bomben ein Krankenhaus sprengten, es aber dennoch weiter galt, dass man mit Putin reden muss.
Steinmeiers Verständnis für Russland war sicherlich ausgeprägt, aber er nahm damit keineswegs eine Außenseiterrolle ein. Die deutsche Wirtschaft plädierte für die Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen gegen Russland. Steinmeiers SPD hatte mit Alt-Kanzler Gerhard Schröder sogar einen echten Freund Putins in ihren Reihen, der alte Weggefährten aus dem Kanzleramt an entscheidender Stelle installierte, um das Gasgeschäft abzusichern.
Und Kanzlerin Angela Merkel von der CDU setzte sich aller Warnungen aus den USA und von den Osteuropäern zum Trotz für den Bau der Gasröhre Nord Stream 2 ein, obwohl sie menschlich spürte, wozu der Kremlherr fähig ist. Bis heute hält sie es für richtig, der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft verwehrt zu haben. "Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel steht zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest", teilte eine Sprecherin Merkels am Montag mit.
Steinmeier definierte die Russland-Politik wesentlich
Steinmeier war einer der wichtigsten Außenpolitiker und Kanzler-Einflüsterer. Er prägte als Chef des Kanzleramtes, danach als Vorsitzender der SPD-Fraktion, als Außenminister und schließlich auch als Präsident die deutsche Russlandpolitik. Bei den Sozialdemokraten geht sie zurück auf Willy Brandts Ostpolitik mit ihrem Credo des Wandels durch Annäherung. Brandt trieb in den 1970er Jahren den Pipeline-Bau in der Sowjetunion mit deutschen Krediten voran. Der plattgemachte Prager Frühling von 1968 fiel für ihn nichts ins Gewicht. Wegen der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg fühlte die SPD eine tiefe moralische Schuld gegenüber Russland, die wiederum die Schuld Russlands im Verhältnis zu anderen Völkern ausblendete.
Als Wladimir Putin die Ukraine überfiel, stürzte das schöngefärbte Russlandbild Steinmeiers zusammen. Er verurteilte den Angriff und rief dem zu, den er schon so lange kennt, seine Soldaten zurückzuziehen: "Stoppen Sie den Wahnsinn dieses Krieges. Jetzt!" Fast sechs Wochen später wird immer noch gemordet. Der Bundespräsident hatte sich getäuscht.
"Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler", sagt Frank-Walter Steinmeier nun. "Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben." Seine Einschätzung sei gewesen, dass Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. "Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt." Er hat recht mit dem "Wir", auch wenn er sich damit selbst entlastet.
Die Bundesregierung weist den Vorwurf des ukrainischen Botschafters dennoch zurück. Tragende Partei der Koalition ist die SPD.